ITALIEN – Erste Freitodbegleitung in Italien; das politische Tauziehen geht weiter

23. August 2022

Der politische Weg zur Selbstbestimmung über das eigene Lebensende bleibt schwierig. Der Weg über die Gerichte ist nach wie vor der Einzige, der es Menschen in Italien ermöglichen kann, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes und begleitetes Lebensende dort auszuüben, wo sie ihren Lebensmittelpunkt haben.

In Italien wurde am 16. Juni 2022 mit Unterstützung der italienischen Organisation Associazione Luca Coscioni die erste legale Freitodbegleitung durchgeführt. Im so genannten «Fall Mario» in der Region Marche hatte die Gesundheitsbehörde nach mehreren Klagen des betroffenen Mannes (unter anderem wegen Amtsverzögerung) Anfang Februar 2022 über das für die Suizidhilfe einzusetzende Medikament entschieden. Im Vorfeld gab es zudem praktische Hürden. Für die Finanzierung einer geeigneten Apparatur für die Auslösung der Infusion durch den Patienten musste die Associazione Luca Coscioni ein öffentliches Fundraising durchführen – dies, obschon der Staat dafür besorgt sein muss, dass die geeigneten Mittel zur Verfügung stehen.

Der 44-jährige Mann, mit richtigem Namen Federico Carboni, war seit einem Unfall vor 11 Jahren querschnittgelähmt und auf künstliche Mittel zur Lebenserhaltung angewiesen. Rechtsgrundlage für diese erste legale Freitodbegleitung ist ein Urteil des italienischen Verfassungsgerichtes vom 25. September 2019 im Zusammenhang mit dem so genannten «Fall Fabiano Antoniani», auch bekannt als «DJ Fabo»; demgemäss ist es grundsätzlich zulässig, einer schwer erkrankten urteilsfähigen Person mit einem festen Sterbewunsch Suizidhilfe zu leisten, sofern diese nur mit künstlichen Mitteln («trattamenti di sostegno vitale») am Leben erhalten werden kann.

Volksreferendum abgewiesen

Unerfreulich ist die Abweisung eines Volksreferendums zur teilweisen Aufhebung von Artikel 579 des Strafgesetzes «Tötung auf Verlangen». Obschon die Unterschriftensammlung für das von der Associazione Luca Coscioni im Sommer 2021 lancierte Volksreferendum ein voller Erfolg war und Anfang Oktober 2021 rund 1,2 Millionen Unterschriften eingereicht werden konnten (notwendig sind 500 000), wird es nicht zu einer Volksabstimmung kommen. Am 15. Februar 2022 entschied das italienische Verfassungsgericht – wohl unter politischem Druck –, dass die im Referendum geforderte Änderung des Strafgesetzes zu verfassungswidrigen Gesetzeslücken zum Nachteil besonders vulnerabler Personen führen könnte. Die Ablehnung des Referendums durch das Verfassungsgericht, insbesondere deren formalistische Begründung, sorgte in Italien für grosses Unverständnis.

Etwas verkürzt gesagt wäre künftig eine mit Einverständnis der betroffenen Person vollzogene Tötung nur dann strafbar gewesen, wenn diese Person minderjährig oder nicht urteilsfähig war, oder wenn deren Einverständnis auf irgendeine Art erzwungen wurde. Und in diesen Fällen hätte es sich dann nicht um eine Tötung auf Verlangen, sondern um den Straftatbestand Mord gehandelt. Dieser ist in den Artikeln 575-577 geregelt und wäre entsprechend zu ahnden gewesen.

Weiterhin kein Gesetz

Die Möglichkeiten zur begleiteten selbstbestimmten Lebensbeendigung bleiben für schwer erkrankte Menschen in Italien trotz des Urteils im Fall Fabiano Antoniani sehr beschränkt. Es fehlen nach wie vor die für die Einhaltung der vom Verfassungsgericht festgelegten Vorprüfungen von Gesuchen zur Suizidhilfe notwendigen gesetzlichen Grundlagen und institutionellen Strukturen. Immerhin hat das italienische Parlament am 10. März 2022, nach zähem Hin und Her in der Kommission, Torpedierungsversuchen von rechter Seite und mehrmaligem Verschieben des Traktandums, einem Gesetzesentwurf zur Suizidhilfe mit ein paar Änderungen zugestimmt. Nur gerade 371 von 630 Abgeordnete waren bei der Abstimmung zugegen. Das Abstimmungsresultat: 253 ja, 117 nein, eine Enthaltung. Seither liegt der Entwurf beim Senat, wo er noch eine Weile bleiben dürfte. Nach dem Rücktritt von Regierungschef Mario Draghi finden in Italien am 25. September 2022 vorgezogene Parlamentsneuwahlen statt; das Suizidhilfegesetz wird entsprechend kaum oberste Priorität haben.

Der Gesetzesentwurf ist nicht unumstritten. Insbesondere ist störend, dass in der aktuellen Fassung nur Personen Zugang zu Suizidhilfe haben, die auf künstliche Mittel zur Lebenserhaltung angewiesen sind, also beispielsweise künstlich beatmet werden müssen. Dies würde zahlreiche schwer leidende Menschen weiterhin vom Zugang zu Suizidhilfe ausschliessen.

Weiterer Präzedenzfall soll Klärung bringen

Um der bestehenden Ungleichbehandlung entgegenzutreten, brachte der Selbstbestimmungsaktivist Marco Cappato von der Associazione Luca Coscioni Anfang August 2022 eine terminal krebskranke Frau zu einer Freitodbegleitung in die Schweiz und zeigte sich nach seiner Rückkehr bei der italienischen Polizei wegen Beihilfe zum Suizid an. Die Frau war im Gegensatz zu Federico Carboni nicht auf lebenserhaltende Massnahmen angewiesen und konnte daher in Italien nicht auf legalem Weg eine Freitodbegleitung in Anspruch nehmen. Mit seiner Aktion, die er im Vorfeld angekündigt hatte, will Cappato diese Diskriminierung nun mit einem Präzedenzfall auf dem Rechtsweg aufheben.

Die gleiche Vorgehensweise hatte Cappato bereits 2017 für Fabiano Antoniani gewählt. Er war damals wegen Anstiftung und Beihilfe zum Suizid angeklagt gewesen, nachdem er am 27. Februar 2017 Antoniani zu einer Freitodbegleitung in die Schweiz begleitet und sich anschliessend bei der Mailänder Polizei selbst angezeigt hatte. Das Geschworenengericht in Mailand sprach ihn am 23. Dezember 2019 frei. Dass Federico Carboni eine Freitodbegleitung in Italien beanspruchen konnte, ist das Ergebnis dieses mit grosser Zivilcourage und juristischer Vorbereitung provozierten Präzedenzfalls.