FRANKREICH – Frankreich ist keine Insel
24. Mai 2022
Nachdem in den letzten Jahren diverse Gesetzesvorschläge zur Legalisierung der direkten aktiven Sterbehilfe und der Suizidhilfe in Frankreich an politischen Manövern scheiterten, soll ein anderer Weg die Konsensfindung ermöglichen.
Der soeben wiedergewählte französische Staatspräsident Emmanuel Macron hatte bei der Vorstellung seines Wahlprogramms die Schaffung einer «Convention Citoyenne» (ein Laiengremium, bestehend aus einer Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern, das sich vertieft mit der Materie auseinandersetzt und Empfehlungen abgibt) angekündigt. Dies soll zu einer breiteren Abstützung künftiger Lösungen für die Wahlfreiheit bezüglich des eigenen Lebensendes führen.
Themen rund um ein würdiges Lebensende werden in Frankreich jedoch schon seit vielen Jahren debattiert und die Umfragen sprechen eine deutliche Sprache [1]. Der Verdacht liegt nahe, dass der Politik schlicht der Mut fehlt, persönliche Ängste, Überzeugungen und Interessensbindungen zurückzustellen und auf den klaren Wunsch der Bürgerinnen und Bürger zu hören. Ob eine Convention Citoyenne dies zu ändern vermag?
Wer die Debatten in Frankreich zum selbstbestimmten Lebensende mitverfolgt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sterben und Tod in Frankreich nicht das Gleiche ist wie in anderen Ländern. Man drückt sich um konkrete Entscheidungen zu diesem Thema, anstatt die Gelegenheit zu ergreifen, über die Grenzen, beispielsweise in die Schweiz, zu schauen. Immerhin ist in den letzten Jahren in zahlreichen europäischen Ländern die aktive Sterbehilfe und/oder die Suizidhilfe legal möglich geworden. Die vertiefte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Modellen und den Erfahrungen aus deren praktischer Umsetzung könnten bestehende Ängste abbauen und eine solide Grundlage schaffen, um auch in Frankreich zu einem vernünftigen und mehrheitsfähigen Gesetzesvorschlag zu gelangen.
Im Zentrum muss jedenfalls die Wahlfreiheit des Individuums stehen, eine Freiheit, die sich die Franzosen schon seit vielen Jahren wünschen. Die heutige Loi Claeys-Léonetti [2] bietet keine echte Selbstbestimmung über Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes; sich auf deren unzureichende Umsetzung zu berufen, wie dies die Gegner der Sterbehilfe gerne tun, reicht demzufolge als Argument gegen die baldige Legalisierung von aktiver Sterbehilfe und/oder Suizidhilfe nicht aus. Selbst wenn beispielsweise die Patientenverfügung stärkere Verbreitung findet und die Angebote der palliativen Versorgung verbessert werden – und wohlgemerkt: beides ist wichtig und wünschbar –, wird es auch in Frankreich stets Personen geben, deren Lebensqualität aufgrund eines Leidens in einem für sie persönlich nicht tolerierbaren Mass eingeschränkt ist und auf das die Medizin keine Antworten hat.
Zuzulassen, dass diese Menschen weiter leiden, einen riskanten Suizidversuch unternehmen, sich auf illegalem Weg ein tödliches Medikament verschaffen oder heimlich ins Ausland reisen müssen, ist ein Affront für Menschen, für die Weiterleben mehrheitlich eine Qual ist. Warum soll man ihnen verbieten, so wie dies heute der Fall ist, sich in Ruhe auf ihr Ende vorzubereiten und zuhause so zu sterben, wie sie es sich wünschen?
Frankreich ist keine Insel, und es gibt keinen Grund, den eigenen Bürgerinnen und Bürgern die Ausübung eines Rechts zu verweigern, das anderswo seit vielen Jahren besteht. Es ist zu wünschen, dass die Bürgerinnen und Bürger, die Teil einer künftigen Convention Citoyenne sind, offen und kritisch genug sind, sich mit den Realitäten und den Erfahrungen anderer Länder mit ihren jeweiligen Modellen unvoreingenommen auseinanderzusetzen.
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[1] http://www.dignitas.ch/index.php?option=com_content&view=article&id=70&Itemid=138&lang=fr
[2] LOI n° 2016-87 du 2 février 2016 créant de nouveaux droits en faveur des malades et des personnes en fin de vie; https://www.legifrance.gouv.fr/jorf/id/JORFTEXT000031970253?r=hMFAQjT2cS