BRASILIEN – Tabus und Vorurteile verunmöglichen weiterhin den Zugang zu einem selbstbestimmten Lebensende
07. August 2024
Gastbeitrag von Luciana Dadalto* und Adriano Machado Facioli**
In Brasilien gelten Fragen, die die Selbstbestimmung des Einzelnen über das eigene Lebensende und den eigenen Körper betreffen, noch immer als Tabu. Mehr noch: Sie werden auch als Verstoss gegen den christlichen Glauben angesehen.
Leider ist es so, dass in der Bundesverfassung zwar die Trennung von Staat und Religionen festgeschrieben ist, in der Präambel jedoch ausdrücklich steht, dass die Verkündung des Textes «unter dem Schutz Gottes» erfolgt. Und das sagt viel darüber aus, wie würdevolles Sterben in unserem Land angesehen wird.
Derzeit werden zwei Artikel des brasilianischen Strafgesetzbuchs (aus dem Jahr 1941) zur Klassifizierung der Sterbehilfe herangezogen:
Aktive Sterbehilfe: Art. 121. Tötung eines Menschen
Strafe: Freiheitsentzug von sechs bis zwanzig Jahren.
Strafminderung: § 1 Wenn der Täter die Straftat aus sozial oder moralisch relevanten Motiven oder unter der Kontrolle von Emotionen, die zu Gewaltausübung führen, und unmittelbar nach einer ungerechtfertigten Provokation des Opfers begeht, kann der Richter die Strafe um ein Sechstel bis ein Drittel reduzieren.
Assistierter Suizid: Art. 122. Herbeiführung von oder Anstiftung zur Selbsttötung oder Selbstverletzung oder materielle Unterstützung bei der Selbsttötung [1]
Strafe: Freiheitsentzug von sechs Monaten bis zwei Jahren.
Neben diesen Artikeln des 80 Jahre alten Strafgesetzbuches wird das in der Verfassung verankerte Recht auf Leben von der Mehrheit der christlich-konservativen Bevölkerung als die Pflicht verstanden, so lange zu leben, bis «Gott» den Menschen von dieser Welt nimmt.
Aus diesem Grund:
- ist Übertherapie eine gängige Praxis in Krankenhäusern, die von Ärzten und Familienangehörigen als eine Form der Pflege verstanden wird.
- herrscht bei den Befürwortern der Palliativmedizin (die weiterhin in der Minderheit sind) die Auffassung vor, dass allein der Zugang zur Palliativmedizin einen würdigen Tod garantiert.
- wurden in den letzten Jahrzehnten zwar einige Gesetzesvorhaben zur Legalisierung der Sterbehilfe vorgelegt, jedoch abgelehnt oder verloren sich in der Bürokratie des brasilianischen Nationalkongresses.
- sind die Bemühungen um die Anerkennung des Rechts auf (selbstbestimmtes) Sterben noch nicht bis zum Bundesgerichtshof, dem höchsten Gericht des Landes, vorgedrungen (oder zumindest wurde noch kein Fall publik).
In Anbetracht der Tatsache, dass die derzeitige Zusammensetzung des brasilianischen Nationalkongresses wahrscheinlich die konservativste in der gesamten Geschichte der jungen brasilianischen Demokratie ist (die 1985 nach mehr als 20 Jahren rechtsextremer Militärdiktatur entstand), ist in den kommenden Jahren nicht mit einem Gesetz zur Sterbehilfe zu rechnen.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass sich in mehreren konservativen Ländern mit christlicher Mehrheit, vor allem in Lateinamerika, die gerichtliche Überprüfung des Verbots der Sterbehilfe als die wirksamste Strategie zur Legalisierung erwiesen hat. Dies haben wir in den jüngsten Fällen der Peruanerin Ana Estrada und der Ecuadorianerin Paola Roldán Espinosa gesehen. In Brasilien hat jedoch bis heute noch niemand vor dem höchsten Gericht für das Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende gekämpft.
Auf jeden Fall gibt es keine Garantien (oder Erwartungen), dass der Bundesgerichtshof positiv über einen Antrag auf aktive Sterbehilfe und / oder assistierten Suizid entscheiden würde. Dies vor allem, weil die Zusammensetzung dieser Institution in den letzten Jahren immer konservativer geworden ist.
Hingegen hat die Zahl der akademischen Forschungsarbeiten über Sterbehilfe zugenommen, ebenso wie das Interesse der brasilianischen Medien an diesem Thema. Infolgedessen sind «aktive Sterbehilfe» und «assistierter Suizid» Begriffe, die in den Diskussionen immer präsenter werden, auch wenn die überwiegende Mehrheit der Brasilianer, die sich an diesen Diskussionen beteiligen, religiöse Argumente verwenden, um ihre Ablehnung auszudrücken, nämlich stets mit dem Argument, dass «Gott uns das Leben gibt und nur er es uns nehmen kann».
Auch die Zahl der Brasilianerinnen und Brasilianer, die sich an Schweizer Organisationen wenden, steigt jedes Jahr weiter an. Neben wirtschaftlicher Hürden und Vorurteilen des brasilianischen Gesundheitspersonals fehlt es Betroffenen oft auch an den nötigen Fremdsprachenkenntnissen. Aus diesem Grund suchen sie oft Menschen in Brasilien auf, die sich mit Sterbehilfe beschäftigen, bitten um Hilfe und erhalten eine schmerzliche Absage, weil diese befürchten, dass gegen sie ermittelt wird und sie schliesslich wegen des Verbrechens der «Herbeiführung von, Anstiftung oder Hilfe zum Selbstmord oder zur Selbstverstümmelung» verurteilt werden könnten.
Dies ist das derzeitige brasilianische Szenario – oder treffender «Nicht-Szenario» – in Bezug auf Sterbehilfe. Deshalb rufen wir die Menschen auf der ganzen Welt auf, die an die Sache glauben und dafür kämpfen, uns dabei zu helfen, Brasilien auf die Landkarte der Debatten über Sterbehilfe und die Sterbehilfe selbst auf die Liste der dringlichen Themen in unserem Land zu setzen.
*Luciana Dadalto ist Juristin, Bioethikerin, Forscherin zu Themen der Autonomie und Würde am Lebensende und Betreiberin des Portals www.testamentovital.com.br
**Adriano Machado Facioli ist Psychologe, Aktivist für Sterbehilfe, Administrator einer brasilianischen Facebook-Gruppe über Sterbehilfe und Professor in der Abteilung für Forschung und wissenschaftliche Kommunikation an der Escola Superior de Ciências da Saúde in Brasília, Distrito Federal, Brasilien.
[1] Wortlaut gemäss Gesetz Nr. 13.968, ab 2019