Der Mythos vom Gesunden, der sterben will

15. Mai 2024


Am 13. März 2024 hat das Schweizer Bundesgericht den Genfer Arzt Pierre Beck vom Vorwurf freigesprochen, Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes missachtet zu haben. Es hatte ihn schon am 9. Dezember 2021 in Bezug auf das Heilmittelgesetz freigesprochen. Dr. Pierre Beck, ehemaliger Präsident von EXIT Suisse romande, hatte einer 86jährigen angeblich gesunden Frau zusammen mit ihrem schwer erkrankten Ehemann eine Suizidassistenz ermöglicht. Die betagte Ehefrau hatte entschieden, dass sie ohne ihren Gatten auf keinen Fall weiterleben will. Der Fall wurde von verschiedenen Gerichtsinstanzen beurteilt, und höchstrichterlich wurden keine Verstösse gegen geltende Gesetze festgestellt.

Irritierend war, dass mit der wiederholten Verwendung des Begriffs «gesund» in den Gerichtsentscheiden und der Presseberichterstattung etwas Wesentliches übersehen wurde: Wer wirklich gesund ist, will nicht sterben – auch nicht mit einer Suizidassistenz. Die Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält fest: «Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen»[1]. Das bedeutet: Ein schweres Leiden kann auch dann gegeben sein, wenn keine Diagnose im Sinne der ICD- und ICF-Tabellen vorliegt.

Der Freispruch von Pierre Beck bestätigt dies implizit und gibt Ärzten somit mehr Rechtssicherheit. Dass es im Fall Beck zu einem Verfahren gekommen ist, zeigt, dass der geltende Rechtsrahmen in der Schweiz, wonach jede Freitodbegleitung von Polizei, Staatsanwaltschaft und Amtsarzt untersucht wird, gut funktioniert. Befürchtungen, dass nun mehr Menschen eine Freitodbegleitung in Anspruch nehmen werden, sind unbegründet: Kein Arzt wird einem wirklich Gesunden ein Rezept für Natrium-Pentobarbital ausstellen.

Die Grundvoraussetzungen für eine Suizidassistenz bleiben die gleichen wie bis anhin: Urteilsfähigkeit und minimale körperliche Aktionsfähigkeit. Für eine Freitodbegleitung bei DIGNITAS muss die Person Mitglied des Vereins sein. Entscheidet sich eine Person, ein Gesuch für eine Freitodbegleitung zu stellen, wird dieses, sobald die Unterlagen vollständig sind, von einem Schweizer Arzt geprüft. In der Schweiz dürfen nur Ärzte mit einer Praxisbewilligung ein Rezept für das bei der Freitodbegleitung verwendete Medikament Natrium-Pentobarbital ausstellen. Bei in der Schweiz wohnhaften Personen ist dies oft der Hausarzt. Die Wohlerwogenheit und die Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches müssen für den prüfenden Arzt in jedem Fall klar erkennbar und nachvollziehbar sein.

[1] https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1948/1015_1002_976/de
Weiterführende Links:
Medienmitteilung des Bundesgerichts vom 13. März 2024:
«Suizidhilfe für gesunde Frau: Genfer Arzt hat Betäubungsmittelgesetz nicht verletzt»
Medienmitteilung von DIGNITAS vom 14. März 2024:
«Bundesgerichtsentscheid vom 13. März 2024 Dr. Pierre Beck: Eine Einordnung»
Urteilsbegründung des Bundesgerichts (in französischer Sprache)