FRANKREICH – Sterbehilfe: Gesetzesentwurf diskriminiert Menschen mit Langzeitleiden und psychischer Erkrankung
15. Mai 2024
Ein neuer Gesetzesentwurf will die «aide à mourir» (Sterbehilfe) regeln, schliesst jedoch zahlreiche Menschen von vornherein aus, auch solche mit einer psychischen Erkrankung. Ein grundsätzlicher Ausschluss vom Zugang zu Sterbehilfe erhöht jedoch den Druck auf die Ausgeschlossenen. Die Tabuisierung des Suizids und die um ein Vielfaches höhere Anzahl gescheiterter Suizidversuche werden sich möglicherweise noch verstärken.
Nach langen Vorbereitungen wird sich das französische Parlament in den nächsten Tagen mit einem umfassenden «Gesetzesvorschlag für die Begleitung von Kranken und die Begleitung am Lebensende» befassen. Am 10. April 2024 war das 2023 erarbeitete und lange angekündigte «Projet de loi relatif à l’accompagnement des malades et de la fin de vie» nach zahlreichen Verzögerungen der Regierung vorgelegt worden.
Der Gesetzesvorschlag umfasst Bestimmungen zur verbesserten Palliativversorgung, zum Patientenschutz (Patientenverfügung) und zur «aide à mourir», worunter Suizidhilfe und direkte aktive Sterbehilfe zusammengefasst werden. Besonders stossend ist die vorgeschlagene Einschränkung des Zugangs zur «aide à mourir» auf Personen mit einer prognostizierten Lebenserwartung von maximal zwölf Monaten. Eine solche Voraussetzung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Zunächst kann niemand, auch nicht der beste Mediziner, mit Sicherheit den Todeszeitpunkt voraussagen. Den Zugang zu einer «aide à mourir» von einer bestimmten Lebenserwartung abhängig zu machen, ist zudem diskriminierend; es schliesst zahlreiche schwer und unheilbar erkrankte Personen aus, die nicht unmittelbar am Lebensende stehen, deren Lebensqualität sich jedoch in einem für sie unerträglichen Ausmass verschlechtert hat.
Ausschluss von psychischen Leiden
Nebst Personen, die beispielsweise an einer neurodegenerativen Krankheit oder einer unerträglichen körperlichen Einschränkung leiden, die sich unter Umständen noch über Jahre hinziehen kann, schränkt der Gesetzesentwurf insbesondere auch die Rechte von Menschen mit einer psychischen Erkrankung auf unzulässige Weise ein. Personen, die aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung ihr Leiden und Leben beenden wollen und die unter keiner in absehbarer Zeit zum Tode führenden somatischen Krankheit leiden, werden von vornherein gänzlich von professioneller und legaler Unterstützung ausgeschlossen.
Am 8. April 2024 schrieb die französische Tageszeitung «Le Monde»: «Emmanuel Macron hat es bekräftigt: Die Bitte um Hilfe beim Sterben setzt eine ‹volle und uneingeschränkte Urteilsfähigkeit› voraus, was bedeutet, dass auch ‹Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen› davon ausgeschlossen sind – ebenso wie solche mit bestimmten neurodegenerativen Erkrankungen.» Gemäss dem französischen Staatspräsidenten sind Menschen mit einer psychischen Erkrankung also per se nicht urteilsfähig. Dieser Aussage liegt ein antiquiertes Menschenbild zugrunde, nämlich dass ein psychisch kranker Mensch keine klaren und wohlüberlegten Entscheidungen treffen könne und deshalb grundsätzlich vor sich selbst geschützt werden müsse. Das ist arrogant und menschenverachtend.
Differenzierung notwendig
Zwar vermag eine suizidale Krise oder die akute Phase einer psychischen Erkrankung die Urteilsfähigkeit vorübergehend, eine intellektuelle Einschränkung diese gar dauerhaft aufzuheben. Es gibt jedoch Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose und einem langen Leidens- und Therapieweg, die sehr wohl urteilsfähig sind, klare Vorstellungen davon haben, was Lebensqualität für sie bedeutet, wo die Grenze ihrer Leidensfähigkeit liegt sowie wie viel und welche Hilfe sie wann und wie lange in Anspruch nehmen möchten. Allen Menschen mit einem psychischem Leiden Urteilsunfähigkeit zu unterstellen, ist eine nicht zu rechtfertigende Verallgemeinerung.
Das Schweizerische Bundesgericht bestätigte bereits am 3. November 2006 die Entscheidung über Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes als Menschenrecht und gestand dieses auch psychisch kranken Menschen zu, wobei es folgende Differenzierung machte: «Es gilt zwischen dem Sterbewunsch zu unterscheiden, der Ausdruck einer therapierbaren psychischen Störung ist und nach Behandlung ruft, und jenem, der auf einem selbst bestimmten, wohlerwogenen und dauerhaften Entscheid einer urteilsfähigen Person beruht (‹Bilanzsuizid›), den es gegebenenfalls zu respektieren gilt. Basiert der Sterbewunsch auf einem autonomen, die Gesamtsituation erfassenden Entscheid, darf unter Umständen auch psychisch Kranken Natrium-Pentobarbital verschrieben und dadurch Suizidbeihilfe gewährt werden.»[1]
Diese Differenzierung kann auch in Frankreich gemacht werden. Erfahrene Therapeuten wissen, dass eine für den Betroffenen akzeptable Lebensqualität manchmal auch nach jahrelangen Therapien nicht erreicht wird. Ein kompetenter Psychiater weiss zu unterscheiden zwischen einem Sterbewunsch, der Symptom einer Krise oder Phase ist, und einem wohlüberlegten Bilanzentscheid. Diese Differenzierung muss Richtschnur sein in der Beurteilung des Sterbewunsches von Personen mit einer psychischen Erkrankung. Sie müssen die gleichen Rechte haben wie Menschen mit einer somatischen Erkrankung.
Tabuisierung von Suiziden und Suizidversuchen
Ein weiterer Aspekt, der oft übersehen und auch im Kontext des vorliegenden Gesetzesentwurfs nicht beachtet wird, ist die Bedeutung von Handlungsoptionen für die eigene Lebensqualität. Ein Sterbehilfe-Recht, das wirklich human und fortschrittlich ist, beruht auf Wahlfreiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung und muss den Betroffenen legale, sichere und zugängliche Möglichkeiten bezüglich Art und Zeitpunkt ihres Lebensendes offenhalten.
Ein Ausschluss vom Zugang zu Sterbehilfe erhöht den Druck auf die Ausgeschlossenen. Wenn das Gesetz den Zugang zur «aide à mourir» von vornherein derart einschränkt, werden sich die Tabuisierung des Suizids und die um ein Vielfaches höhere Anzahl gescheiterter Suizidversuche möglicherweise noch verstärken, mit gravierenden gesellschaftlichen Folgen.
Betroffene dürfen nicht mitreden
Ohnehin kommen die direkt Betroffenen bei der Ausarbeitung eines wirklich fairen und menschenrechtskonformen Gesetzestextes zu kurz. Klare Verantwortlichkeiten in den Abläufen sind unbestritten wichtig. Der vorliegende Gesetzesentwurf will es allerdings nur denen recht machen, die an einer «aide à mourir» potenziell beteiligt wären – nicht aber den Betroffenen selbst, die bereits in den Vorbereitungen und den Debatten um Voraussetzungen und Kriterien kaum zu Wort kamen. Sie haben weiterhin keinen Platz am Verhandlungstisch. Stattdessen sprechen andere angeblich in ihrem Namen: Ärzteverbände, Pflege- und Palliativverbände, Politiker, ja gar Bischöfe und der Papst.
Ärzte streiten sich darüber, wer wohl am besten qualifiziert sei, ein Gesuch um Sterbehilfe zu beurteilen, Palliativverbände befürchten eine absurde Art «Sterbezwang», Politiker wollen ihre konservative Stammwählerschaft nicht vergraulen, weltfremde Kleriker reden den Untergang der (christlichen) Zivilisation und der Nächstenliebe herbei. Dabei sieht der Gesetzesentwurf ohnehin vor, dass niemand verpflichtet ist, sich an einer «aide à mourir» zu beteiligen. Wo also liegt das Problem?
Wer einem Betroffenen die Entscheidungshoheit über sein Leben und Sterben von vornherein abspricht, missachtet den gebotenen Respekt vor der Menschenwürde. Er erklärt sich für etwas zuständig, das nicht in seiner Verantwortung liegt und gerät in einen selbst verursachten unauflösbaren Widerspruch. Diesen im Fall von psychisch erkrankten Menschen unter dem Vorwand der Urteilsunfähigkeit durch ein komplettes Verbot aus der Welt schaffen zu wollen, hat nichts mit Schutz und Fürsorge zu tun. Ganz im Gegenteil ist es eine entmündigende und herabwürdigende Haltung, eine nicht zu rechtfertigende Diskriminierung sowie eine Beschneidung des (Menschen-) Rechts auf Selbstbestimmung.