Serie: Einblick in die Arbeit bei Dignitas
05. November 2025
Folge 3: Im Gespräch mit Andrea* und Tino** vom Begleiterteam
Was hat euch zu Dignitas gebracht?
Andrea: Ich habe bei einem Bestattungsunternehmen gearbeitet, das die Verstorbenen abholt, die im «Blauen Haus», in den Räumlichkeiten von Dignitas[1], eine FTB (Freitodbegleitung) in Anspruch nehmen. So bin ich mit Dignitas-Mitarbeitenden ins Gespräch gekommen – und schliesslich im Begleiterteam gelandet.
Tino: Ich habe immer schon mit Menschen in – sagen wir – schwierigen Lebenssituationen gearbeitet. Vor meiner Tätigkeit bei Dignitaswar ich bei Exit, wo ich unter anderem in der Mitgliederadministration und der FTB-Planung tätig war. Zu Dignitasgekommen bin ich, weil ich dank der internationalen Ausrichtung des Vereins meine Sprachkenntnisse wieder vermehrt einsetzen kann und weil es hier die Möglichkeit gibt, sowohl im Büro als auch im Begleiterteam tätig zu sein.
Was sind die Hauptaufgaben des Begleiterteams?
A: Wir führen das Mitglied und dessen Familie und die begleitenden Personen – meist Familie und Freunde – durch die Begleitung. Und, ja, wir reichen auch Taschentücher und nehmen Hinterbliebene auch mal in den Arm.
T: Ich nehme uns als Dienstleister, auch als eine Art Wunscherfüller wahr. Wir befähigen Menschen, etwas selbst Gewolltes mit Würde auszuführen. Dabei befinden wir uns in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite dürfen wir diesen speziellen Moment so mitgestalten, dass er möglichst angenehm für alle Beteiligten ist. Auf der anderen Seite tragen wir die «letzte Verantwortung» von Vereinsseite: Wir prüfen zum Beispiel noch einmal, ob das Dossier in Ordnung ist, oder versichern uns, dass das Mitglied auch bei der Begleitung noch alle Kriterien erfüllt, die für die Durchführung einer FTB wichtig sind. Andernfalls müssten wir die Notbremse ziehen. Glücklicherweise kommt das dank des Mehraugenprinzips bei Dignitasso gut wie nie vor.
Wie läuft eine Begleitung ab?
A: Wir Begleiter[2] treffen am Morgen der Begleitung rund eineinhalb Stunden vor dem Mitglied im «Blauen Haus» ein. Für Personen mit Wohnsitz in der Schweiz findet die Freitodbegleitung normalerweise bei ihnen zuhause statt. Dort studieren wir erst einmal das Dossier des Mitglieds und reagieren, sollten uns Unstimmigkeiten auffallen. Dann trifft das Mitglied ein, mit oder ohne begleitende Personen. Normalerweise erledigen wir dann die letzten administrativen Schritte: Vollmacht und Freitoderklärung unterschreiben etwa. Danach bestimmt das Mitglied: Wie viel Zeit benötigt es noch mit seinen Liebsten? Gerade im Sommer sitzen sie oft noch eine Weile im Garten vor dem «Blauen Haus». Wir Begleiter bleiben in dieser Zeit im Hintergrund, bis das Mitglied bereit ist für die Einnahme des Medikaments[3]. Ab diesem Zeitpunkt sind wir immer im Raum, um einen sicheren Ablauf zu gewährleisten. Unsere Anwesenheit hat dabei auch eine beruhigende Wirkung auf die Angehörigen.
Welche Momente / Situationen sind euch besonders in Erinnerung geblieben?
T: Einmal durfte ich einen älteren Herrn begleiten, der nach dem Trinken des Medikaments meinte, er habe schon bessere Shots getrunken. In diesem Moment lachten alle und er schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Ein anderes Beispiel ist die Begleitung einer älteren Frau, die von ihren beiden Töchtern begleitet wurde, von denen eine schwanger war. Als sich die Frau von ihrem ungeborenen Enkel verabschiedete, kamen auch mir die Tränen.
Für mich hat jede Begleitung ihre «Blitzlichter», die in Erinnerung bleiben. Und ich muss sagen: Der Moment des Loslassens, des Sterbens, ist für mich einer der lebendigsten Momente überhaupt.
A: Mich nimmt es auch nach bald 14 Jahren immer noch mit, wenn Eltern ihre eigenen Kinder begleiten müssen, auch wenn diese Kinder vielleicht schon in ihren 40ern und froh sind, gehen zu dürfen. Eine Familie ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Der junge Mann war etwa Ende 20 und hat sich wirklich gefreut, dass er gehen durfte. Auch seine Mutter und sein Vater teilten dieses Gefühl. Eine Weile nach der Begleitung habe ich von diesen Eltern einen Dankesbrief erhalten. Es berührt mich noch heute, wenn ich daran denke. Im Anschluss an diese Begleitung bin ich erst mal nach Hause gefahren, habe Zeit mit meinen Kindern verbracht und war einfach extrem dankbar, dass sie gesund sind.
Was hilft euch in schwierigen Situationen?
A: Interessanterweise hilft es, wenn die Behörden eintreffen.
T: Ja, absolut. Durch ihre Sachlichkeit holen sie uns Begleitende schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Nicht etwa, weil sie kein Mitgefühl hätten; allerdings agieren sie in ihrer Rolle als Staatsvertreter.
A: Da eine FTB als «aussergewöhnlicher Todesfall» kategorisiert ist, erscheinen generell die Polizei, Vertreter des Instituts für Rechtsmedizin (IRM) sowie ein Staatsanwalt.
Welche Eigenschaften sind für diese Arbeit wichtig?
A & T: Empathie!
A: Auch wichtig ist es, so nah wie möglich, aber so distanziert wie nötig zu sein. Und manchmal braucht es auch Mut und Bestimmtheit. Wenn wir als Begleiterteam beispielsweise das Gefühl haben, dass das Mitglied doch noch nicht bereit ist, müssen wir auch den Mut haben, das anzusprechen und zu sagen: «Heute ist nicht Ihr Tag zum Sterben.»
Was gefällt euch besonders an der Arbeit im Begleiterteam und bei Dignitas generell?
A: Mir gefallen die Freiheiten gut, die wir hier im Verein haben, jedenfalls dann, wenn keine FTB ansteht. An einem Tag mit FTB bestimmt natürlich das Mitglied den Ablauf.
T: Das wertschätzende und unkomplizierte Miteinander.
Inwiefern hat euch die Arbeit bei Dignitas verändert?
T: Ich frage mich wohl öfter: Ist das wirklich wichtig? Und ich versuche, bewusster zu geniessen und den Kontakt mit Freunden lebendig zu halten. So manches, was früher selbstverständlich war, ist es heute nicht mehr – gerade in Bezug auf die eigene Gesundheit. Aber es ist schon nicht so, dass ich den ganzen Tag daran denke, dass es bald vorbei sein könnte. Ich schätze das Leben einfach sehr.
A: Ich nehme Vieles bewusster wahr, schätze Alltägliches mehr und weiss einfach, wie schnell es vorbei sein kann. Ich glaube, ich bin auch gelassener geworden. Jedenfalls meinten meine Kinder mal zu mir: «Mami, du bist viel ‹gechillter›!»
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*Andrea arbeitet seit 13,5 Jahren bei Dignitas. Neben ihrer Arbeit im Begleiterteam ist sie auch im Erstkontakt und im Dignitas-Archiv tätig.
**Tino arbeitet seit 2,5 Jahren bei Dignitas. Neben seiner Arbeit im Begleiterteam ist er auch im Erstkontakt tätig.
Folge 1: Carola vom Erstkontakt
Folge 2: Myriam vom Planerteam
[1] Durch die internationale Ausrichtung des Vereins finden Begleitungen eher selten in den eigenen Räumen der Mitglieder statt, da die Mehrheit von ihnen nicht in der Schweiz wohnhaft ist. Grundsätzlich unterscheidet sich der Ablauf einer Begleitung im eigenen Zuhause nicht von jener im «Blauen Haus».
[2] An jeder FTB sind jeweils zwei Personen aus dem DIGNITAS-Begleiterteam dabei.
[3] Details zum Ablauf der Freitodbegleitung finden Sie hier