ISLAND – Sterbehilfe: Langsamer, aber stetiger Fortschritt

26. November 2024

Gastbeitrag von Ingrid Kuhlman*

Die 2017 gegründete isländische Gesellschaft für das Recht auf Sterben, Lífsvirðing, hat sich zum Ziel gesetzt, einen respektvollen und offenen Dialog über Sterbehilfe zu fördern.

Unsere Hauptziele sind:

1. Förderung einer konstruktiven Diskussion: Wir fördern offene, umfassende und breit angelegte Gespräche über Sterbehilfe, auf der Überzeugung beruhend, dass jeder Mensch autonom über seinen Körper, sein Leben und seinen Tod entscheiden darf.

2. Engagement zur Änderung der Gesetzgebung: Wir setzen uns für die Ausarbeitung und die Verabschiedung einer Gesetzgebung ein, die Sterbehilfe als eine von Mitgefühl geprägte Option zulässt. Wir sind der Auffassung, dass ein Mensch unter klar definierten und stringenten Voraussetzungen das Recht auf Wahlmöglichkeiten bezüglich seines eigenen Lebensendes haben sollte.

3. Aufklärung und internationale Zusammenarbeit: Wir bieten Wissen an, veranstalten Treffen und organisieren Seminare, um das Verständnis für Sterbehilfe zu vertiefen. Wir unterhalten auch starke Partnerschaften mit ähnlichen Organisationen auf der ganzen Welt, wie z. B. den nordischen, mit denen wir uns jährlich treffen, um die Zusammenarbeit und das gemeinsame Lernen zu fördern.

Sich entwickelnde Perspektiven der Sterbehilfe
Seit 2017 haben wir stetige Fortschritte bei der Förderung der Akzeptanz der Sterbehilfe gemacht. Im Jahr 2023 führte das Gesundheitsministerium eine Umfrage unter Ärzten, Pflegenden, Hilfspflegenden, Patientenorganisationen und der Öffentlichkeit durch. Die öffentliche Unterstützung für eine Zulassung von Sterbehilfe ist konstant hoch und liegt seit 2015 zwischen 75 % und 78 %.

Die Umfrage von 2023 ergab eine klare Unterstützung innerhalb des Gesundheitssektors: Sterbehilfe wird von 56 % der Ärzte, 86 % der Pflegenden, 8 % der Hilfspflegenden und 84,4 % der Patientenorganisationen befürwortet. Dies ist eine deutliche Veränderung gegenüber 2010, als lediglich 18 % der Ärzte und 20 % der Pflegenden eine positive Einstellung zur Sterbehilfe äusserten. Der Vorstand von Lífsvirðing hat die isländische Ärztekammer aufgefordert, ihren bisherigen Standpunkt zu überdenken und sich für Sterbehilfe auszusprechen oder zumindest die in der Umfrage zum Ausdruck gebrachte Mehrheitsmeinung der Ärzte zu respektieren und von einer weiterhin ablehnenden Position abzusehen.

Widerstand von Ärztekammer und Palliativmedizin
Trotz dieser Fortschritte lehnt die isländische Ärztekammer Sterbehilfe nach wie vor entschieden ab. Ihre Vertreter haben es abgelehnt oder nicht auf Anfragen reagiert, an Gesprächen teilzunehmen, an unseren Seminaren zu sprechen oder sich mit uns zu treffen, um die verschiedenen Aspekte der Sterbehilfe zu diskutieren. Nach der Veröffentlichung der Umfrageergebnisse im Jahr 2023 haben sie sich kurz zu Wort gemeldet, um sich danach wieder in Schweigen zu hüllen.

Widerstand kommt auch von Palliativmedizinern, deren Aufgabe es ist, die Lebensqualität zu verbessern, indem sie Schmerzen behandeln und lindern sowie emotionale Unterstützung bieten, ohne den Tod zu beschleunigen. Viele sind der Ansicht, dass Sterbehilfe im Widerspruch zu dieser Aufgabe stehe. Einige Palliativmediziner sind auch der Meinung, dass ihre Behandlungen fast alle Formen des Leidens wirksam bekämpfen können, wenn angemessene Ressourcen vorhanden sind. Dies, obschon es nachweislich in vielen Fällen schwierig ist, Leiden vollständig zu lindern. Palliativmediziner sehen in der Palliativmedizin eine Alternative zur Sterbehilfe und sind besorgt, dass eine Legalisierung der Sterbehilfe von der Weiterentwicklung und Verbesserung der Palliativmedizin ablenken könnte.

Gesetzesentwurf – März 2024
Im März 2024 brachte Viðreisn, die Liberale Reformpartei, einen Gesetzentwurf zur Sterbehilfe ein, der darauf abzielte, Menschen grössere Autonomie in Bezug auf ihr Lebensende zu ermöglichen. Der Gesetzentwurf verfolgte zwei Hauptziele: Erstens sollte Personen mit unheilbaren Krankheiten und nicht behandelbarem und unerträglichem Leiden der Zugang zu Sterbehilfe gewährt werden, und zweitens sollte es Ärzten unter bestimmten Bedingungen erlaubt sein, diese Hilfe zu leisten. Der Gesetzentwurf bezog sich auf Personen, die freiverantwortlich und unmissverständlich den klaren Wunsch nach Unterstützung zur Beendigung ihres eigenen Lebens äussern.

Bedauerlicherweise wurde der Gesetzentwurf im Parlament nicht zur Diskussion gestellt, was bei von Abgeordneten eingebrachten Vorschlägen häufig der Fall ist.

Parlamentarischer Vorstoss – September 2024
Im September 2024 brachte Bryndís Haraldsdóttir, Abgeordnete der Unabhängigkeitspartei, zusammen mit sechs weiteren Abgeordneten aus verschiedenen Parteien einen parlamentarischen Vorschlag ein, der den Gesundheitsminister beauftragte, ein Gesetz zur Sterbehilfe auszuarbeiten und vorzulegen. Seit 2017 ist Bryndís engagierte Befürworterin eines Sterbehilfegesetzes. Sie betont immer wieder, wie wichtig es ist, den Menschen Lebensende-Entscheidungen zu ermöglichen, und arbeitet unermüdlich daran, dieses Thema in der isländischen Gesetzgebung voranzubringen. Ihr Engagement hat massgeblich dazu beigetragen, die Sterbehilfe auf der politischen Agenda zu halten, und sie war eine Schlüsselfigur, um über Parteigrenzen hinweg Unterstützung zu gewinnen.

Leider stürzte die Regierung nur eine Woche nachdem Bryndís ihren Vorschlag vorgelegt hatte, was zu den für Ende November 2024 angesetzten Parlamentsneuwahlen führte. Sobald eine neue Regierung gebildet ist, hoffen wir auf einen neuen Vorschlag zu diesem wichtigen Thema.

Wird Island als erstes nordisches Land die Sterbehilfe legalisieren?
Island hat in der Vergangenheit eine Vorreiterrolle bei der Ausgestaltung der Politik in den nordischen Ländern eingenommen, von der Förderung der Gleichstellung der Geschlechter über eine fortschrittliche Regelung des Elternurlaubs bis hin zur Anerkennung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten. Jetzt stellt sich die Frage, ob wir den Mut haben, diese Führungsrolle weiterhin zu übernehmen und als erstes Land in der Region Sterbehilfe zu legalisieren.

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*Ingrid Kuhlman ist Vorsitzende der isländischen Gesellschaft für das Recht auf Sterben, Lífsvirðing.