FRANKREICH – Staatspräsident Macron taktiert weiter – Ermutigendes Zeichen aus Strassburg

21. November 2023

Während Staatspräsident Emmanuel Macron mit einem überaus ambitiösen «projet de loi» den Menschen in Frankreich einmal mehr eine baldige Legalisierung der Sterbehilfe in Aussicht stellt und dabei viel Zeit verstreichen lässt, wird die französische Regierung zu Beschwerden von 31 Personen mit Wohnsitz in Frankreich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Stellung beziehen müssen.

Die Legalisierung einer Form von Sterbehilfe (assistierter Suizid und/oder direkte aktive Sterbehilfe) war eines der Wahlversprechen von Staatspräsident Emmanuel Macron bei seiner Kandidatur für eine zweite Amtszeit. Eine grosse Mehrheit der Bevölkerung in Frankreich wünscht sich dies schon lange und die «Convention citoyenne sur la fin de vie», ein Bürgerkonvent, der sich von Dezember 2022 bis März 2023 im Auftrag des französischen Staates mit Themen des Lebensendes befasste, hat dies deutlich bestätigt. Dennoch sieht es nicht so aus, als würde das Wahlversprechen eingehalten.

Viel Aktivität, kaum Fortschritte
Die «Convention citoyenne», ein neuartiges und professionell organisiertes Instrument der Bürgerbeteiligung zur breiten Debatte und Meinungsbildung zu gesellschaftlich besonders relevanten Themen hat eine (weitere) fundierte Auseinandersetzung mit der Selbstbestimmung am Lebensende ermöglicht. Die im Frühjahr 2023 in einem Bericht an die Regierung abgegebenen Empfehlungen des Gremiums zugunsten der Legalisierung einer «aide active à mourir» (assistierter Suizid und/oder direkte aktive Sterbehilfe) sind jedoch in keiner Weise bindend. Macron stellte ein Gesetz bis zum Sommer 2023 in Aussicht und beauftragte Agnès Firmin le Bodo, die als delegierte Ministerin im Gesundheitsministerium unter anderem für Prävention und Gesundheitsberufe zuständig ist, die Grundlagen für einen Gesetzesentwurf zu erarbeiten.

Dieses «projet de loi» soll nicht nur Möglichkeiten zur selbstbestimmten begleiteten Lebensbeendigung vorsehen, sondern auch Bestimmungen zur verbesserten Umsetzung der bestehenden Gesetze in den Bereichen Palliativversorgung und Patientenverfügung enthalten. Diese Themenkombination sorgte für zusätzlichen Widerstand aus den Reihen von gegnerischen Berufsverbänden, Lobbyorganisationen und Parlamentsvertretern, die im Rahmen des «projet de loi» angehört wurden und deren Interessen und Ansichten stark divergieren. Das Vorgehen stiess auch im Parlament auf Kritik, da dieses wenig goutiert, dass die Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs nicht direkt ihm anvertraut wurde.

Das überaus ambitiöse Unterfangen, für alle Beteiligten akzeptable Lösungswege zu skizzieren, kam – wenig überraschend – nur schleppend voran, und die Präsentation des «projet de loi» an die Regierung wurde bereits mehrmals verschoben, unter anderem – und ganz offiziell! – aufgrund des Papstbesuchs in Marseille im September. Sie soll nun im Dezember 2023 stattfinden.

Geringe Erfolgschancen eines Gesetzesentwurfs
Unabhängig vom Zeitplan sind die Erfolgschancen eines wie auch immer gearteten Gesetzesentwurfes nach wie vor gering. Selbst wenn das Parlament sich im kommenden Jahr mit einem Gesetzesvorschlag befasst, ist zu erwarten, dass zahlreiche inhaltliche Änderungsanträge erfolgen werden. So wie die politischen Mehrheiten derzeit liegen, dürfte ein Gesetzesvorschlag zudem entweder von vornherein am Widerstand konservativer Kreise scheitern oder so eng formuliert sein, dass nur wenige Menschen überhaupt von ihrem Recht auf Wahlfreiheit bezüglich ihres eigenen Lebensendes Gebrauch machen können. Die Entwicklungen in anderen Ländern zeigen überdies, dass der Aufbau von Strukturen und Abläufen für die effektive Umsetzung neuer Bestimmungen – insbesondere in einem Bereich wie der Sterbehilfe, in dem die entsprechende Erfahrung noch fehlt – Zeit beansprucht.

Konkrete Details zu den vorgeschlagenen Bestimmungen zur Sterbehilfe sind noch nicht verfügbar. Dem Vernehmen nach soll sie unter anderem an die Bedingung geknüpft sein, dass der betroffenen Person eine Restlebenserwartung von maximal 6 bis 12 Monaten prognostiziert wird. Dies würde bedeuten, dass zahlreichen schwerleidenden Personen a priori der Zugang zu einer selbstbestimmten, sicheren und professionell begleiteten Lebensbeendigung und das Menschenrecht auf ein selbstbestimmtes Lebensende und die dazu benötigte Hilfe verweigert würden. Durch ein Gesetz würde ihnen also just jene Freiheit vorenthalten, die dieses garantieren müsste.

Ermutigendes Zeichen aus Strassburg
Eine wichtige Hürde genommen hat in der Zwischenzeit das von DIGNITAS koordinierte Verfahren am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. In der Sache «A. und andere gegen FRANKREICH» entschied der EGMR am 4. September 2023, der französischen Regierung die Beschwerden von 31 Personen mit Wohnsitz in Frankreich vom 28. April 2023 zuzustellen [1]. Dass der EGMR das Verfahren an die Hand nimmt und der französische Staat in der Sache Stellung beziehen muss, ist ein Etappensieg und ein Signal aus Strassburg, dass die Argumentation der Beschwerdeführenden, wonach Frankreich derzeit seinen Bürgern das (Menschen-)Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende zu Unrecht vorenthält, prüfenswert ist. Die Entscheidung ist umso bemerkenswerter, da nur zwischen 5 und 10 % der Beschwerden gegen den französischen Staat vom EGMR als relevant eingestuft werden.

In der Sache «A. und andere gegen FRANKREICH» beklagen die Beschwerdeführenden unter Berufung auf die Artikel 2, 3, 8 und 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Verletzung ihres Rechts auf Leben, ihres Rechts, nicht unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden, ihres Rechts auf persönliche Autonomie und ihrer Gedanken- und Gewissensfreiheit, die sich daraus ergebe, dass es im französischen Recht keine angemessenen und ausreichenden Garantien bezüglich der Möglichkeit für jeden gebe, sein Leben zu einem Zeitpunkt seiner Wahl bewusst, frei und in Würde zu beenden.

Wegweisend für die Selbstbestimmung am Lebensende in Europa dürfte auch die Entscheidung des EGMR im nahezu gleichzeitig anhängig gemachten Verfahren «Karsai gegen UNGARN» sein. Ein an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankter, in Ungarn lebender Mann hatte Anfang August 2023 in Strassburg Beschwerde gegen den ungarischen Staat eingereicht, weil er unter ungarischem Gesetz keine Möglichkeit hat, sein Leben selbstbestimmt, sicher und begleitet zu beenden. Der EGMR hat aufgrund des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers entschieden, den Fall prioritär zu behandeln; eine Anhörung findet bereits am 28. November 2023 statt. DIGNITAS hat beim EGMR eine schriftliche Stellungnahme zu diesem Fall eingereicht.

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[1] s. auch Medienmitteilung von DIGNITAS vom 25.9.2023
[2] s. auch Medienmitteilung des EGMR vom 26.9.2023 (in englischer Sprache)