DEUTSCHLAND – Deutscher Bundestag lehnt Gesetzesentwürfe zur Regelung der Suizidhilfe ab – Suizidhilfe weiterhin möglich
23. August 2023
Gastbeitrag von Sandra Martino*
Am 6. Juli 2023 stimmte der Deutsche Bundestag über zwei Gesetzesvorschläge zur «Regelung» der Suizidhilfe und über einen Antrag zur Stärkung der Suizidprävention ab. Die beiden Gesetzesvorschläge wurden abgelehnt, der Antrag zur Stärkung der Suizidprävention wurde angenommen. Mit der Ablehnung der beiden Gesetzesvorschläge sind in Deutschland Freitodbegleitungen weiterhin möglich, und zwar im gleichen Rahmen wie dies seit Februar 2020 der Fall ist, als das deutsche Bundesverfassungsgericht den 2015 eingeführten §217 des deutschen Strafgesetzbuches («geschäftsmässige Förderung der Selbsttötung») für nichtig erklärte. Der folgende Gastbeitrag von DIGNITAS-Deutschland fasst die Ereignisse rund um die abgelehnten Gesetzesvorschläge zusammen.
Am 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das in §217 StGB strafbewehrte Verbot der «geschäftsmässigen Förderung der Selbsttötung» für grundrechtswidrig und nichtig erklärt**, da es die Ausübung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben und die Freiheit, hierfür von Dritten Hilfe in Anspruch zu nehmen, unverhältnismässig stark einschränkte und somit faktisch verunmöglichte. Die Achtung dieses Selbstbestimmungsrechts kollidiere jedoch mit der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und das hohe Rechtsgut Leben zu schützen. Um dieses Spannungsfeld aufzulösen räumte das Bundesverfassungsgericht in Randnote (RN) 340 des Urteils dem Gesetzgeber die Freiheit ein, «ein prozedurales Sicherungskonzept zu entwickeln». Allerdings müsse «jede regulatorische Einschränkung der assistierten Selbsttötung sicherstellen, dass sie dem verfassungsrechtlich geschützten Recht des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, auch faktisch hinreichenden Raum zur Entfaltung und Umsetzung belässt» (RN 341).
Entsprechende Bestrebungen zur Neuregelung der Suizidhilfe liessen nicht lange auf sich warten: Bereits im März 2020 liess die Bundesregierung verlauten, dass sie «nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes über die Sterbehilfe [gemeint: Suizidhilfe] eine gesetzliche Neuregelung» anstrebe, worauf auf Einladung des Bundesgesundheitsministeriums zahlreiche Stellungnahmen und Beiträge von Verbänden, Organisationen, Kirchen und Sachverständigen eingereicht worden seien. Am 21.04.2021 diskutierte der Bundestag im Rahmen einer Orientierungsdebatte über mögliche Neuregelungen der Suizidhilfe. Daraufhin wurden drei Gesetzesentwürfe zur Regulierung der Suizidhilfe sowie ein fraktionsübergreifender Antrag für die Stärkung der Suizidprävention (Drucksache 20/1121) eingereicht. Während der Gesetzesentwurf der Gruppe um den Abgeordneten Lars Castellucci (20/904) sozusagen in einer Neuauflage des grundrechtswidrigen und nichtigen §217 die geschäftsmässige Förderung der Selbsttötung mit einer engen Ausnahmeregelung grundsätzlich wieder unter Strafe stellen wollte, verfolgten die beiden anderen Entwürfe der Gruppe um die Abgeordnete Katrin Helling-Plahr (20/2332) sowie der Gruppe um die Abgeordnete Renate Künast (20/2293) einen Ansatz ausserhalb des Strafrechts, um das Recht auf selbstbestimmtes Sterben legislativ abzusichern. Nach weiteren Orientierungsdebatten, Lesungen und Anhörungen im Bundestag und in diversen Ausschüssen wurde diesen Frühling der Ruf laut, noch vor der parlamentarischen Sommerpause über die Gesetzesentwürfe abstimmen zu wollen, was zu vehementer Kritik von diversen Seiten führte.
Am 6. Juli 2023 standen schliesslich zwei Gesetzentwürfe und ein Antrag zur Stärkung der Suizidprävention zur Abstimmung, die just am Tage zuvor den Rechtsausschuss passiert hatten. Die beiden liberaleren Entwürfe der Gruppe Helling-Plahr und der Gruppe Künast legte der Ausschuss auf Antrag der beiden Gruppen zusammen. Der dritte Entwurf der Gruppe Castellucci passierte das Gremium in geänderter Fassung (20/7624). Keiner der beiden Gesetzesentwürfe zur «Neuregelung» der Suizidhilfe erhielt eine Mehrheit:
Gesetzesentwürfe zur Regelung der Suizidhilfe – Bundestag, 6. Juli 2023
Stimmenverteilung nach Partei (Gesetzesentwurf Castellucci u.a.):

Stimmenverteilung nach Partei (Gesetzesentwurf Helling-Plahr / Künast u.a.):

Einzig der Antrag zur Stärkung der Suizidprävention wurde mit 687 Ja zu 1 Nein und 4 Enthaltungen von fast allen Abgeordneten angenommen. So ehrenwert die Ziele dieses Antrags zu sein scheinen, ist besonders darauf achten, dass dadurch der Zugang zur Selbstbestimmung über das eigene Lebensende nicht hinterrücks eingeschränkt wird!
Die Debatte um die verschiedenen Gesetzesentwürfe und die damit verbundene Berichterstattung in den Medien haben bei vielen Menschen eine Unsicherheit darüber hinterlassen, was nun nach der Abstimmung im Bundestag gelte. Aus diesem Grund hat der Justiziar von DIGNITAS-Deutschland eine «Klarstellung der Fakten im Bereich Sterbehilfe» verfasst, welche hier eingesehen werden kann.
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* Sandra Martino ist 1. Vorsitzende des Vereins DIGNITAS-Deutschland e.V.
** BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15 -,Rn. 1-343