FRANKREICH – Die grosse Debatte um Selbstbestimmung über das eigene Lebensende
22. Februar 2023
Im Zuge der «Convention citoyenne sur la fin de vie» befassen sich Medien und Öffentlichkeit derzeit mit der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Sterbehilfe in Frankreich erlaubt werden soll. Auch die Politik bemüht sich um eine faktenorientierte Auseinandersetzung mit Modellen in anderen Ländern und den Erfahrungen aus deren praktischer Umsetzung. Wann ein Gesetzesentwurf vorliegen könnte, ob dieser die Wahlfreiheit über das eigene Lebensende tatsächlich gewährleistet und ob er eine Mehrheit im Parlament finden wird, ist dennoch alles andere als sicher.
Die Convention citoyenne nimmt ihre Arbeiten auf
Die am 13. September 2022 vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron angekündigte «Convention citoyenne» zum Thema Lebensende nahm ihre Arbeiten im Dezember 2022 auf. Im Rahmen der ersten Arbeitssitzungen dieses Gremiums hatte DIGNITAS am 11. Dezember 2022 Gelegenheit, in Paris das Schweizer Modell der Suizidhilfe zu präsentieren und Fragen zu beantworten (Link).
Das nach bestimmten soziodemografischen Kriterien ausgeloste Laiengremium von 185 Bürgerinnen und Bürgern setzt sich bis März 2023 umfassend mit Themen des Lebensendes auseinander. Insbesondere geht es der Frage nach, ob und inwiefern die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten zur Begleitung am Lebensende individuellen Situationen ausreichend Rechnung tragen, und ob es Anpassungen oder Änderungen braucht. Danach kann das Gremium entsprechende, allerdings unverbindliche, Empfehlungen abgeben. Parallel dazu finden in den Regionen Veranstaltungen und Debatten zum Thema statt, mit dem Ziel, eine breitere Abstützung für künftige Lösungen zu erreichen.
Auseinandersetzung mit Modellen anderer Länder
Auch auf Seiten der Politik bemüht man sich um die längst fällige faktenorientierte Auseinandersetzung mit Modellen anderer Länder, darunter eben auch mit der Suizidhilfe in der Schweiz. Anfang Oktober 2022 reiste eine mehrköpfige Parlamentsdelegation in Begleitung verschiedener Medienvertreter nach Genf, um sich vor Ort über die Ausgestaltung der Suizidhilfe in der Schweiz zu informieren, und traf sich dort unter anderen mit Vertretern von DIGNITAS. Ende Januar 2023 machte sich zudem eine Delegation unter der Führung des ehemaligen französischen Gesundheitsministers und derzeitigen Regierungssprechers Olivier Véran anlässlich eines Besuchs beim Universitätsspital Genf ein Bild vom Umgang mit Lebensendwünschen in der Schweiz.
Welches Gesetz braucht es?
DIGNITAS beteiligt sich seit seiner Gründung immer wieder an Gesetzgebungsprozessen, sei es durch Eingaben bei Vernehmlassungen, die Teilnahme an Hearings oder den Empfang politischer Delegationen. Im Rahmen der öffentlichen und politischen Debatte teilt der Verein zudem in zahlreichen Ländern sein Wissen und seine Praxiserfahrung mit interessierten Kreisen.
Wichtige praktische Fragestellungen in der in den französischen Medien seit längerem geführten Debatte zur Legalisierung von Suizidhilfe und / oder direkter aktiver Sterbehilfe sind im Kern die gleichen wie wir sie von anderen Ländern kennen. Es geht um die Rolle von Ärzten und Pflegepersonal, um mehr Ausbildung und Aufklärung sowie um einen besseren Zugang der Betroffenen zu den gesetzlich bereits bestehenden Optionen (z.B. Palliativversorgung, Patientenverfügung).
Allen Debatten und Versprechungen zum Trotz: Wann ein Gesetzesentwurf vorliegen könnte, ob dieser die Wahlfreiheit über das eigene Lebensende tatsächlich gewährleistet und ob er eine Mehrheit im Parlament finden wird, ist alles andere als sicher. Unabhängig davon, welches Modell Frankreich letztlich wählen wird, hält DIGNITAS die folgenden Punkte für essenziell für die Gewährung echter Wahlfreiheit:
Rechtlicher Rahmen: Ermöglichung eines (menschen-)rechtskonformen Zugangs zu einer humanen und sicheren Möglichkeit zur eigenen Lebensbeendigung. Dabei soll die Maxime gelten: «So viele Regeln wie nötig, so wenige wie möglich».
Ergebnisoffene Beratung: Ein Mensch, der sich ein selbstbestimmtes Lebensende wünscht, muss die Möglichkeit haben, sich freiwillig und ergebnisoffen über alle Optionen zu informieren, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen.
Urteilsfähigkeit: Die Rahmenbedingungen für dauerhafte und wohlerwogene Entscheidungen im Leben gelten auch für das selbstbestimmte Lebensende. Grundvoraussetzung für die Ausübung dieses Menschenrechts ist die Urteilsfähigkeit.
Zugang zu einem sicheren Mittel: Die sichere Umsetzung eines Wunsches nach selbstbestimmter Lebensbeendigung muss respektiert und geschützt werden. Dies bedeutet auch, dass Menschen der Zugang zum Medikament Natrium-Pentobarbital (NaP), welches in der Schweiz seit Jahren für Suizidhilfe angewendet wird, nicht grundsätzlich verwehrt werden darf.
Umsetzbarkeit: Niemand muss Hilfe zur Lebensbeendigung leisten, wenn er dies nicht möchte. Doch das Menschenrecht auf ein selbstbestimmtes Lebensende und die dazu benötigte Hilfe müssen ohne diskriminierende Bedingungen und unzumutbare administrative Hürden ausgeübt werden können – dort wo die betroffene Person zu Hause ist.
Enttabuisierung von Suizid und Suizidversuchen: Die meisten einsamen «Do-it-yourself»-Suizidversuche scheitern – mit schwerwiegenden Folgen für den Menschen, sein Umfeld und seine Familie. Aufklärung und ein offener Umgang mit diesem Thema sind wichtig und haben eine präventive Wirkung.
Verfügbarkeit von Daten und Informationen: Fakten helfen, eine informierte und wohlerwogene Entscheidung zu treffen. Darum ist es wichtig, zu allen Bereichen und Optionen der Selbstbestimmung über das eigene Lebensende offen zu sprechen, zu forschen und sie nachvollziehbar zu machen.
Urteil in den beiden Gerichtsverfahren von DIGNITAS in Frankreich
In den beiden von einem Rechtsanwalt in Paris 2020 und 2021 im Auftrag von DIGNITAS initiierten Rechtsverfahren in Frankreich erfolgte am 29. Dezember 2022 ein Urteil des höchsten Verwaltungsgerichts, dem Conseil d’État. Der Conseil d’État entschied, den in den beiden Fällen vorgebrachten Argumenten und Fragestellungen von DIGNITAS nicht zu folgen. Zuvor hatte er es auch abgelehnt, die aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen dem Verfassungsgericht vorzulegen. Im ersten Verfahren ging es um die Rechtmässigkeit des derzeitigen kompletten Verbots des Medikaments Natrium-Pentobarbital (NaP) in der Humanmedizin. Das zweite Verfahren befasste sich mit der Frage, ob es rechtens ist, dass die heute geltende Gesetzgebung in Frankreich (die so genannte «Loi Claeys-Léonetti») jegliche aktive Art von Hilfe zur selbstbestimmten Lebensbeendigung beiseitelässt. DIGNITAS prüft nun weitere rechtliche Schritte.