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DEUTSCHLAND 
Zwei Gerichtsurteile sorgen für Verunsicherung der Ärzteschaft bezüglich Suizidhilfe

 

Gastbeitrag von Sandra Martino*

Im Februar und im April dieses Jahres wurden in zwei voneinander unabhängigen Strafverfahren zwei Ärzte wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt[1]. Dabei stand nicht die Suizidhilfe als solches in Frage, vielmehr wurde in beiden Fällen bemängelt, dass die Verstorbenen entgegen der Beurteilung der verurteilten Ärzte ihren Selbsttötungsentschluss nicht freiverantwortlich gebildet hätten.

Obwohl es sich bei beiden Verfahren um besondere Fälle von Suizidhilfe handelte, die ausserhalb der Strukturen von etablierten Suizidhilfeorganisationen stattfanden, fühlen sich in Deutschland nun viele Ärzte und Ärztinnen verunsichert, die grundsätzlich bereit wären im Einzelfall Suizidhilfe zu leisten. Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass politisch motiviert mit diesen Urteilen ein Exempel statuiert werden sollte, um genau diese Verunsicherung zu erreichen und so den Zugang zu professioneller Suizidhilfe zu erschweren.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 die Freiverantwortlichkeit wie folgt beschrieben:

«Ein Suizidentschluss geht auf einen autonom gebildeten, freien Willen zurück, wenn der Einzelne seine Entscheidung auf der Grundlage einer realitätsbezogenen, am eigenen Selbstbild ausgerichteten Abwägung des Für und Wider trifft.

Eine freie Suizidentscheidung setzt hiernach zunächst die Fähigkeit voraus, seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden und nach dieser Einsicht handeln zu können. […] Des Weiteren müssen dem Betroffenen alle entscheidungserheblichen Gesichtspunkte tatsächlich bekannt sein. Erforderlich ist, dass er über sämtliche Informationen verfügt, er also in der Lage ist, auf einer hinreichenden Beurteilungsgrundlage realitätsgerecht das Für und Wider abzuwägen. Eine freie Willensbildung setzt hierbei insbesondere voraus, dass der Entscheidungsträger Handlungsalternativen zum Suizid erkennt, ihre jeweiligen Folgen bewertet und seine Entscheidung in Kenntnis aller erheblichen Umstände und Optionen trifft. Insoweit gelten dieselben Grundsätze wie bei einer Einwilligung in eine Heilbehandlung. […] Voraussetzung ist zudem, dass der / die Betroffene keinen unzulässigen Einflussnahmen oder Druck ausgesetzt ist. Schliesslich kann von einem freien Willen nur dann ausgegangen werden, wenn der Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, von einer gewissen ‹Dauerhaftigkeit› und ‹inneren Festigkeit› getragen ist.»[2].

Während die vollständige Informiertheit zur aktuellen Gesundheitssituation, zu verbliebenen Handlungsoptionen und Alternativen zum Suizid relativ einfach zu prüfen ist, wird es bei den nicht klar definierten Kriterien «gewisse Dauerhaftigkeit» und «innere Festigkeit» schwieriger. Eine besondere Herausforderung ist es, wenn eine psychische Erkrankung gemäss ICD 10 Kapitel V[3] diagnostiziert wurde.

Grundsätzlich gilt es zu unterscheiden, ob die diagnostizierte psychische Erkrankung beim Betroffenen handlungsführend für den Sterbewunsch ist, oder eine Nebendiagnose in Zusammenhang mit dem gesamten Beschwerdebild. Während im erstgenannten Fall psychiatrische Abklärungen zur Sicherstellung der Freiverantwortlichkeit des Sterbewunsches notwendig sind, gilt dies im zweitgenannten Fall nicht unbedingt.

Anhand der Dokumentation, welche mit dem Ersuchen um eine Freitodbegleitung eingereicht wird (Begründung des Sterbewunsches, Lebensbericht, Arztberichte), erhält der Arzt oder die Ärztin einen Eindruck von der Persönlichkeit sowie von der Gesundheits- und Lebenssituation des Menschen, der selbstbestimmt sterben möchte. Gehen daraus Hinweise auf eine mögliche Einschränkung der Freiverantwortlichkeit hervor, muss dies sorgfältig abgeklärt werden. Welche Massnahmen sich eignen, um die Zweifel an der Freiverantwortlichkeit des Sterbewunsches zu beseitigen, ist je nach Situation unterschiedlich. Wichtig ist, dass genau dokumentiert wird, aufgrund welcher Überlegungen und Informationen der Arzt oder die Ärztin zum Schluss gekommen ist, dass die Kriterien der Freiverantwortlichkeit wie oben beschrieben erfüllt seien. Diese Erkenntnisse werden in einer auswertenden Stellungnahme zu Händen der Ermittlungsbehörden, die nach jeder Freitodbegleitung deren Legalität prüfen, zusammengefasst. Je klarer die Herleitung der Freiverantwortlichkeit beschrieben ist, umso eher können Polizei und Staatsanwaltschaft diese nachvollziehen.

Eine absolute Sicherheit gibt es jedoch selbst bei Vorliegen eines psychiatrischen Fachgutachtens, welches die Freiverantwortlichkeit des Sterbewunsches bestätigt, nicht. Der zuständige Staatsanwalt muss der Argumentation des Suizidhilfe leistenden Arztes folgen wollen.

Bei vielen Menschen – auch bei Staatsanwälten und Psychiatern – herrscht noch die Auffassung vor, dass wer aufgrund seines Leidens sterben möchte, wohl «nicht ganz bei Trost sein könne», mithin depressiv sein müsse und eine Depression die Freiverantwortlichkeit ausschliesse. Wenn dem tatsächlich so wäre, müsste ein Grossteil von Patienten mit verschiedensten Diagnosen als nicht einwilligungsfähig gelten, so inflationär, wie «Depression» als Nebendiagnose in den Berichten der Krankenhäuser aufgeführt wird. Theoretisch entstünden so zuhauf Fälle potenziell widerrechtlicher Zwangsbehandlungen. Hier ist ein Umdenken dringend erforderlich.

Es darf nicht sein, dass die Legalität von Suizidhilfe von der persönlichen Wertehaltung eines Staatsanwalts abhängig ist!

Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig, in beiden Fällen wurde ein Revisionsverfahren angekündigt.

___

* Sandra Martino ist Erste Vorsitzende von DIGNITAS-Deutschland e.V.

[1] Presseerklärung des Landgerichts Essen vom 2.2.2024: «Strafsache gegen Dr. Johann Spittler wegen Totschlags» und Presseerklärung der Berliner Strafgerichte vom 8.4.2024: «Landgericht Berlin I verurteilt Arzt in Sterbehilfe-Fall wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren»

[2] BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020, RN 240 ff

[3] ICD 10 ist die Internationale statistische Klassifikation von Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme; Kapitel V befasst sich mit psychischen und Verhaltensstörungen.

 

 

 

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