UNGARN – Zum Tode von Dániel Karsai
26. November 2024
Ende September 2024 verstarb der an ALS erkrankte ungarische Anwalt Dániel Karsai. Er und seine Mitstreiter hatten sich in Ungarn für sein Recht eingesetzt, sein Leiden und Leben selbstbestimmt zuhause beenden zu dürfen. Für dieses Recht zog Karsai bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der seine Beschwerde zwar in einem vorgezogenen Verfahren behandelte, in seinem Kammerurteil jedoch im Wesentlichen bestätigte, dass es zwar wohl ein Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende gebe, dass die einzelnen Staaten, in diesem Fall also Ungarn, jedoch über einen Ermessensspielraum verfügten, wenn es darum gehe, wie weit die Ausübung dieses Rechts unter Berücksichtigung nationaler Begebenheiten zugelassen werde (und damit beispielsweise auch, ob Suizidhilfe überhaupt legal werden könne).
Damit spielte der EGMR den Ball an den ungarischen Staat zurück, dessen diesbezügliche (politische) Untätigkeit Auslöser für die Beschwerde Karsais in Strassburg war. Ein nach dem Urteil von Karsais Anwälten beantragte Verweisung der Sache an die grosse Kammer wurde von deren Ausschuss ohne weitere Begründung abgelehnt.
Wer am 28. November 2023 die öffentliche Anhörung «Karsai vs Hungary» in Strassburg mitverfolgte, an der Karsai persönlich anwesend war und wo er sich – neben seinem Anwalt und den Vertretern des ungarischen Staates – auch zur Sache äusserte, bekam zumindest eine Ahnung davon, was es heisst, wenn ein schwer erkrankter Mensch vor Gericht ziehen muss, um Kontrolle über sein eigenes Lebensende einzufordern und seine persönliche Entscheidungsfreiheit vor Richtern darzulegen, weil er dazu Hilfe benötigt und niemanden, der ihm diese Hilfe zu geben bereit ist, gefährden will.
Der Mensch Dániel Karsai und sein Lebensweg sind einmalig, doch er steht auch für zehntausende von lebensbejahenden Menschen, die sich aufgrund einer Krankheit oder ähnlichem in einer Situation befinden, in der sich ihre Lebensqualität irreversibel so verschlechtert, dass es für sie persönlich nicht mehr um die Frage nach dem «wie weiterleben» geht, sondern darum, wie sie ihr Lebensende so gestalten können, wie sie gelebt haben und es ihnen auch zusteht: individuell, selbstbestimmt und gemäss den eigenen Vorstellungen.
Dass so viele Länder ihren Bürgerinnen und Bürgern dieses Recht weiterhin verwehren und jeden bestrafen, der einem anderen hilft, seinem Leiden und Leben ein Ende zu setzen, ist ein unerhörter Eingriff in die Privatsphäre und den Gestaltungsfreiraum des Individuums – nicht nur des Betroffenen selbst, sondern auch derer, die zu helfen bereit wären. Gemäss dem EGMR verfügen Staaten über einen (sehr beträchtlichen) Ermessensspielraum, wenn es darum geht, wie weit das Recht auf Selbstbestimmung über das eigene Lebensende unter Berücksichtigung nationaler Begebenheiten ausgeübt werden darf. Weshalb haben Individuen in einem Staat nicht auch einen solchen Ermessensspielraum, wenn es darum geht zu entscheiden, wie weit sie selbst dieses Recht unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Begebenheiten ausüben möchten und dazu die Hilfe Dritter beanspruchen?
Mit seinem eindrücklichen Engagement hat Dániel Karsai vor Gericht, in der Politik und auch in der Öffentlichkeit bis zu seinem Tod wichtige Diskussionen ausgelöst, die über Ungarn hinaus Bedeutung haben. Seine Freunde und Verbündeten, die ihm dabei bis zuletzt zur Seite standen, wollen dieses Engagement nun weiterführen.