Gerichtsentscheide

 

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

Internetseite des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Link)

Die Europäische Menschenrechtskonvention (Link / PDF)

HUDOC-Datenbank / Suchportal des EGMR (Link)

Entscheid vom 29. April 2002 in der Sache Diane Pretty gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 2346/02, auf Englisch (Link)

Entscheid vom 20. Januar 2011 in der Sache Haas gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 31322/07, auf Französisch (Link)

Unter Anrufung von Artikel 8 der Konvention beklagte sich der Beschwerdeführer – ein psychisch kranker Mann, der an einer bipolaren Störung leidet – über die gestellten Bedingungen zur Erlangung von Natrium-Pentobarbital, nämlich ein ärztliches Rezept, welches auf einem vertieften psychiatrischen Gutachten beruht. Da diese Bedingungen in seinem Fall nicht erfüllt werden könnten, machte er geltend, sein Recht, über Zeitpunkt und Art seines Sterbens entscheiden zu können, werde nicht geachtet. Er verlangte, in einer Lage, wie er sie erlebe, müsse der Zugang zu den für einen Suizid notwendigen Medikamenten durch den Staat gewährleistet werden. Der Gerichtshof sah zwar keine Verletzung von Artikel 8 der Konvention durch die Schweiz und lehnte die Beschwerde ab, bestätigte aber den Kernsatz aus dem Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts BGE 133 I 58.

Pressemitteilung des EGMR zu diesem Entscheid (PDF)

Übersetzung des rechtlichen Teils des Urteils in die deutsche Sprache (PDF)

Pressemitteilung des EGMR zur Anhörung des Falles Koch gegen Deutschland, Beschwerde Nr. 497/09 (PDF)

Entscheid vom 31. Mai 2011 zur Zulässigkeit der Beschwerde Koch gegen Deutschland, Beschwerde Nr. 497/09 (Link) und Pressemitteilung (PDF). Der Gerichtshof erklärt die Beschwerde für zulässig.

Entscheid vom 19. Juli 2012 in der Sache Koch gegen Deutschland, Beschwerde Nr. 497/09 (PDF) und Communiqué von DIGNITAS zu diesem Entscheid (PDF)

Entscheid vom 14. Mai 2013 in der Sache Gross gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 67810/10, auf Englisch (Link) und Private Übersetzung auf Deutsch aus dem englischen Original (PDF)

Entscheid der Grossen Kammer des EGMR vom 30. September 2014, die Beschwerde Nr. 67810/10 Gross gegen die Schweiz nicht weiter zu behandeln. Auf Englisch (Link)

Die Schweiz hatte gegen das Urteil vom 14. Mai 2013 Antrag auf Überweisung der Sache an die Grosse Kammer gestellt, welcher vom Filterkomitee des EGMR gutgeheissen wurde. Kurz vor der für den 2. April 2014 anberaumten öffentlichen Anhörung wurde festgestellt, dass die Beschwerdeführerin inzwischen verstorben war.

Entscheid vom 5. Juni 2015 der Grossen Kammer in der Sache Vincent Lambert und Andere gegen Frankreich, Beschwerde Nr. 46034/14, auf Französich (Link)

Mit diesem Urteil entschied der EGMR einstimmig, dass die Beschwerde von vier Familienangehörigen von Vincent Lambert zwar zulässig ist, soweit sie Artikel 2 der Konvention betrifft; mit 12:5 Stimmen wurde der Rest der Beschwerde als unzulässig erachtet. Bei der Prüfung der Frage, ob eine Einstellung der Massnahmen, die Lambert am Leben erhalten, zulässig sei, entschied er – ebenfalls mit 12 zu 5 Stimmen – dass daraus keine Verletzung von Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) resultiert. Damit kann der Entscheid vom 24. Juni 2014 des Obersten Gerichtshofes von Frankreich, des Conseil d’État, umgesetzt werden. Dies bedeutet, dass die lebenserhaltenden Massnahmen von Vincent Lambert, welcher sich seit einem Verkehrsunfall am 29. September 2009 im Zustand der Tetraplegie, vollauf abhängig, künstlich ernährt und in einem chronisch neuro-vegetativem Zustand (Wachkoma) befindet, eingestellt werden können. Die Minderheit der fünf Richter, die aus Aserbeidschan, der Slowakei, Georgien, Malta und Moldawien stammen, sprachen wegen dieser Entscheidung in ihrer Minderheitsmeinung dem Gerichtshof den Titel «Gewissen Europas» ab.

Entscheid vom 23. Juni 2015 in der Sache Jane Nicklinson und Paul Lamb gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 2478/15 und 1787/15, auf Englisch (Link)

In diesem Entscheid hat der EGMR die Beschwerden des querschnittgelähmten Paul Lamb und des verstorbenen Locked-In Tony Nicklinson – vertreten durch seine Ehefrau – aus dem Vereinigten Königreich vereint und aus formellen Gründen als unzulässig abgewiesen. Im Fall der Beschwerde Lamb fehlte es an einem grundlegenden Erfordernis, das erfüllt sein muss, damit sich der EGMR überhaupt mit einer Beschwerde befassen darf: Paul Lamb hat im Laufe des im Vereinigten Königreich geführten Beschwerdeverfahrens gewisse Rügen, die er am EGMR erhoben hat, nicht vorgebracht, so dass es am Erfordernis der Erschöpfung der nationalen Rechtsmittel gefehlt hat. Im Fall Nicklinson stellte sich eine ganz besondere Frage: Einerseits garantiert Artikel 13 EMRK jedermann den Zugang zu einem nationalen Beschwerdeverfahren, wenn er geltend macht, ein aus der EMRK fliessender Anspruch sei ihm gegenüber verletzt worden. Anderseits wird Artikel 13 EMRK nicht so verstanden, dass gestützt darauf vor einem nationalen Gericht geltend gemacht werden kann, ein Artikel eines formellen Gesetzes verletzte die EMRK. Wenn nun versucht werde, diese Beschränkung, die in der Praxis zu Artikel 13 EMRK entwickelt worden ist, zu umgehen indem Artikel 8 EMRK angerufen werde, entstehe dadurch für das Gericht ein fundamentales Problem. Es gehe dabei um den den Staaten belassenen Beurteilungsspielraum. Ein Staat sei grundsätzlich frei, zu entscheiden, welche der drei staatlichen Gewalten (gemeint: Legislative, Exekutive, Judikative) zuständig sei, um innerhalb dieses Beurteilungsspielraums die Politik zu bestimmen und gesetzgeberische Entscheide zu fällen.

 


Schweiz

Entscheid des Bundesgerichts vom 9. Dezember 2021 6B_646/2020 (Link)

Medienmitteilung des Bundesgerichts (Link)

Mit diesem Entscheid hob das Bundesgericht die Verurteilung eines Arztes auf, der einer gesunden und urteilsfähigen 86-jährigen Frau 2017 ein Rezept für das Medikament Natrium-Pentobarbital (NaP) ausgestellt hatte zur Verwendung bei ihrem Suizid. Die Frau wollte mit ihrem todkranken Ehemann zusammen sterben und hatte zuvor notariell festhalten lassen, dass sie ihn nicht überleben wolle. Im April 2017 nahm sie das NaP ein und schied zusammen mit ihrem Gatten aus dem Leben. Das Polizeigericht des Kantons Genf verurteilte den Arzt im Oktober 2019 wegen Verstosses gegen das Heilmittelgesetz (HMG) zu einer Geldstrafe und Busse; das Genfer Kantonsgericht bestätigte diesen Entscheid 2020. Der Arzt habe mit der Abgabe des NaP gegen die «medizin-ethischen Richtlinien» der «Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften» (SAMW) verstossen und damit seine Sorgfaltspflichten verletzt. Die dagegen vom Arzt erhobene Beschwerde an das Bundesgericht hiess diese gut, hob den angefochtenen Entscheid auf und verwies die Sache zu neuem Entscheid zurück an die Vorinstanz. Im konkreten Fall läge ein sogenannter «Bilanzsuizid» einer gesunden Person vor, somit keine medizinische Indikation, und damit falle eine Verurteilung auf Basis des Heilmittelgesetzes ausser Betracht und sei bundesrechtswidrig. Zu prüfen bleibe, ob die Verschreibung von NaP in diesem Fall unter dem Betäubungsmittelgesetz (BetMG) zu sanktionieren sei.


Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt als Verwaltungsgericht VD.2017.21 (AG.2017.455) vom 6. Juli 2017
(Link)

In diesem Entscheid hatte das Gericht über den Rekurs einer Ärztin und Suizidhilfeorganisation-Mitarbeitern zu entscheiden, welche sich dagegen zur Wehr setzte, dass ihr die 90-Tage-Erlaubnis zur Tätigkeit im benachbarten Kanton Basel-Stadt nur unter der Auflage erteilt wurde, «dass die geltenden Standesregeln zur Suizidbeihilfe gemäss Standesordnung der FMH eingehalten würden». Das Gericht begründete ihr Urteil über 18 Seiten hinweg, was ungewöhnlich erscheint, jedoch wohl nötig war, denn es stellten sich verschiedenste Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, unter anderem auch die Frage, ob die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW für Ärzte «verbindlich» sind oder nicht.
Entscheidbesprechung «Suizidhilfe – gehören SAMW-Richtlinien zu den medizinischen Berufspflichten? Zur grundrechtskonformen Auslegung von Art. 40 MedBG» in der juristischen Fachzeitschrift AJP/PJA 1/2019, S. 115ff (Link)


Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts vom 13. September 2016
BGE 142 I 195. (Link)

In diesem Fall ging es um die in Art. 35a des Gesundheitsgesetzes des Kantons Neuenburg verankerte gesetzliche Verpflichtung der staatlich subventionierten gemeinnützigen Einrichtungen, den begleiteten Suizid bei sich zu dulden, wogegen die Heilsarmee bis an das Bundesgericht vorging. Das Bundesgericht erklärte, in der Interessenabwägung überwiege die Freiheit der Bewohner und Patienten des betroffenen Pflegeheims, den Zeitpunkt und die Form ihres Lebensendes selbst zu wählen, gegenüber der Glaubens- und Gewissensfreiheit der Genossenschaft, welche Trägerin des Pflegeheims ist. Der Kanton dürfe bei der Zusprechung von Subventionen geeignete Bedingungen aufstellen; demzufolge sei das Gebot der Rechtsgleichheit nicht verletzt, wenn nur die anerkannten gemeinnützigen Einrichtungen (nicht aber jene, die nicht anerkannt sind und demzufolge keine staatlichen Subventionen erhalten) eine externe Unterstützung zum Zweck der begleiteten Suizidhilfe zulassen müssen. Der neuenburgische Gesetzgeber habe damit auch bezweckt, zwischen jenen Personen, die noch in eigenen Wohnräumen leben, und jenen, die gezwungen sind, in Alters- und Pflegeheimen zu leben, in dieser Hinsicht Rechtsgleichheit herzustellen. Der Staat dürfe dort, wo er solche Heime mit Subventionen unterstütze, gewisse Bedingungen aufstellen; hier handle es sich um eine Bedingung, die dazu bestimmt sei, einem grundlegenden Recht der Bewohner bzw. der Patienten Nachachtung zu verschaffen, wozu der Gesetzgeber befugt sei.


Entscheid der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Schweizerischen Bundesgerichts vom 16. Juni 2010
, BGE 136 II 415 (Link)

Der damals Leitende Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich, Dr. iur. Andreas Brunner, entwarf eine Vereinbarung zwischen der Oberstaatsanwaltschaft und Vereinen wie Exit und DIGNITAS, um gemäss deren Ziffer 1 «die organisierte Suizidhilfe zwecks Qualitätssicherung gewissen Rahmenbedingungen zu unterstellen». Die reale Auswirkung der Vereinbarung war eine Einschränkung der Freiheit derjenigen Personen, die eine Freitodbegleitung in Anspruch nehmen wollen, durch von den Vereinen zu beachtenden Bestimmungen über die Voraussetzungen und den Ablauf der Suizidhilfe – wofür als «Gegenleistung» nur noch stichprobenartiges Erscheinen der Strafuntersuchungsbehörden am Ort der Freitodbegleitung vorgesehen wurde. Am 7. Juli 2009 unterzeichnete einer der Vereine diese Vereinbarung. DIGNITAS lehnte sie aus verschiedenen Gründen ab. Die Vereinbarung wurde von Mitgliedern einer «Pro Life-Organisation» mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten am Bundesgericht angefochten. Auf die Beschwerde wurde jedoch mangels Legitimation der Beschwerdeführer nicht eingetreten. Dennoch sah sich das Bundesgericht veranlasst, in seinem Urteil unter anderem festzustellen: «Zusammenfassend ergibt sich, dass die angefochtene Vereinbarung rechtswidrig ist. Sie entbehrt einer gesetzlichen Grundlage und verstösst darüber hinaus gegen das materielle Strafrecht und das Betäubungsmittelrecht. […] Der Mangel, mit dem die Vereinbarung aufgrund dessen behaftet ist, ist nicht nur offensichtlich, sondern auch gravierend. Dabei fällt ins Gewicht, dass sowohl das Recht auf Leben wie auch die persönliche Freiheit in einem zentralen Bereich betroffen sind […] Zudem erscheint die Vereinbarung der Rechtssicherheit abträglich… »


Entscheid CPEN.2013.75/dhp der Strafrechtlichen Abteilung des Kantons Neuenburg vom 8. Mai 2014
- Entscheidbesprechung in der juristischen Fachzeitschrift AJP/PJA 9/2015, S. 1308ff (Link / PDF)

Aufgrund seiner Anamnese, die auf Schilderungen seines urteilsfähigen 88-jährigen Patienten beruhte, kam der Berufungskläger zum Schluss, dass der Patient wahrscheinlich an einer anorektalen Tumorerkrankung litt. Der Patient weigerte sich strikt, die geringste diagnostische oder therapeutische Behandlung vornehmen zu lassen oder auch nur in Betracht zu ziehen.Im weiteren Verlauf wandte sich der Patient an Exit A.D.M.D. Suisse romande um nahm eine Freitodbegleitung in Anspruch. Der Berufungskläger stellte hierfür das das Rezept für den Bezug des Medikaments aus. Mit Urteil vom 8. Juli 2013 befand das Polizeigericht in erster Instanz den Berufungskläger für schuldig, gegen Art. 26 in Verbindung mit Art. 86 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes über Arzneimittel und Medizinprodukte (HMG) verstossen zu haben. Dieser Verstoss wurde damit begründet, dass er eine tödliche Substanz verschrieben habe, ohne den Gesundheitszustand seines Patienten zu kennen. Der Berufungskläger focht das Urteil des Polizeigerichts vollumfänglich an. Er warf dem Gericht vor, den vorangegangenen Suizidversuch des Patienten, dessen offenkundig und wiederholt geäusserte Absicht, sich das Leben zu nehmen, dessen unwiderrufliche Verweigerung jedes diagnostischen Eingriffs ausser der Anamnese, und dessen Beharrlichkeit, mit der er den Berufungskläger bat, angesichts seines unerträglichen Leiden sterben zu dürfen, nicht angemessen berücksichtigt zu haben. Die strafrechtliche Abteilung des Kantonsgerichts Neuenburg hob in ihrem Berufungsentscheid vom 8. Mai 2014 das angefochtene Urteil auf und sprach den Berufungskläger gänzlich von Schuld und Strafe frei. Die Berufungsinstanz führte aus, dass die vorinstanzliche Interpretation des Wortlautes von Art. 26 Abs. 2 HMG dermassen formalistisch und extensiv sei, dass der Wortlaut dieser gesetzlichen Bestimmung theoretisch auch dahin führen könne, dass jede missliebige Handlung eines Arztes dadurch sanktioniert werden könnte, dass man ihm vorwirft, durch ungenügendes Abklären eben nicht gesicherte «Kenntnis» über den Gesundheitszustand seines Patienten erlangt zu haben.


Entscheid Strafgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, ES.2011.210, Urteil vom 5. Juli 2012
- Entscheidbesprechung in der juristischen Fachzeitschrift AJP/PJA 6/2013 (PDF)

In diesem Entscheid hat das Strafgericht Basel einen Arzt vom Vorwurf freigesprochen, mit der Abgabe eines Rezepts für Natrium-Pentobarbital zum Zwecke einer Freitodbegleitung einer 82jährigen Frau, die beinahe völlig erblindet und deshalb depressiv war, gegen das Heilmittelgesetz verstossen und damit die Gesundheit dieser Person gefährdet zu haben. Das Gericht hielt fest, dass die Medizin-ethische Richtlinie der SAMW über «Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende» auf einen solchen Fall nicht anwendbar sei, und dass eine Forderung nach einem psychiatrischen Gutachten wegen der Depression in diesem Falle wohl eine zu hohe Hürde gewesen wäre. Es hat damit auch der Auffassung widersprochen, ein Rezept für eine Freitodbegleitung sei nur in Fällen zulässig, in welchen jemand aufgrund einer Erkrankung in naher Zukunft ohnehin sterben würde.


Entscheid der II. Öffentlichrechtlichen Abteilung des Schweizerischen Bundes- gerichts vom 3. November 2006
, BGE 133 I 58 (Link)

In diesem Entscheid hat das Schweizerische Bundesgericht das Recht eines Menschen, Art und Zeitpunkt der Beendigung seines eigenen Lebens zu bestimmen, als europäisch garantiertes Grundrecht anerkannt und gleichzeitig grundsätzlich Psychischkranken denselben Anspruch wie allen anderen Menschen gewährt, sofern sie urteilsfähig sind. Gleichzeitig hat das Gericht ein Begehren um Beseitigung der Rezeptpflicht für das für einen begleiteten Suizid benötigte Mittel abgewiesen.

 


Deutschland

Entscheid(e) 2 BvR 2347/15, 2 BvR 2527/16, 2 BvR 2354/16, 2 BvR 1593/16, 2 BvR 1261/16, 2 BvR 651/16 des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, vom 26. Februar 2020 (Link zur Pressemitteilung und zum Urteil)

Communiqué von DIGNITAS(PDF)

Mit diesem Entscheid hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe festgestellt, dass § 217 des deutschen Strafrechts «Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung» – in der Praxis ein Verbot fachkundiger und menschenwürdiger Beratung und Hilfe für ein selbstbestimmtes Lebensende – verfassungswidrig ist. § 217 verstößt gegen das Grundgesetz (GG) und ist nichtig. Zitat: «Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Die in Wahrnehmung dieses Rechts getroffene Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.»


Entscheide 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18 des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, vom 3. Juli 2019

Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs (Link)

Urteil 5 StR 132/18 (Link)

Urteil 5 StR 393/18 (Link)

Die Landgerichte Hamburg und Berlin hatten jeweils einen angeklagten Arzt von dem Vorwurf freigesprochen, sich durch Unterstützung von Selbsttötungen einer 85 und einer 81järhigen Frau sowie das Unterlassen von Massnahmen zur Rettung der bewusstlosen Suizidentinnen wegen Tötungsdelikten strafbar gemacht zu haben. Dagegen erhob die Staatsanwaltschaft Revision. Der Bundesgerichtshof bestätigte die Freisprüche der Landgerichte: «Angesichts der gewachsenen Bedeutung der Selbstbestimmung des Einzelnen auch bei Entscheidungen über sein Leben kann in Fällen des freiverantwortlichen Suizids der Arzt, der die Umstände kennt, nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen verpflichtet werden, gegen den Willen des Suizidenten zu handeln.» Sowie: «Die Garantenstellung des Arztes für das Leben seines Patienten endet, wenn er vereinbarungsgemäß nur noch dessen freiverantwortlichen Suizid begleitet.»


Entscheid BVerwG 3 C 19.15 des Bundesverwaltungsgerichts
in Leipzig, vom 2. März 2017
(Link)

Communiqué von DIGNITAS(PDF, auf Englisch)

Das deutsche Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat der Klage von Ulrich Koch im Prinzip stattgegeben, der verlangt hat, Schwerstkranken in Deutschland dürfe der Zugang zu einem wirksamen Mittel zum Zwecke der selbstbestimmten, eigenen Leidens- und Lebensbeendigung nicht verwehrt werden. Das höchste deutsche Verwaltungsgericht hat dabei auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen anerkannt, selber zu entscheiden, wann und wie er sterben will. Im Verfahren ging es um seine Ehefrau, die am 12. Februar 2005 ihr Leiden und Leben mit Unterstützung und Begleitung unseres Vereins DIGNITAS – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben selbstbestimmt beendet hat, nachdem es ihr die deutschen Behörden versagt hatten, Zugang zum Mittel Natrium-Pentobarbital zu erhalten, um zu Hause in Deutschland selbstbestimmt sterben zu können. Sie war dadurch gezwungen worden, eine beschwerliche Reise zu DIGNITAS zu unternehmen. Frau Koch war nach einem Unfall hochgradig querschnittgelähmt, musste ständig beatmet werden und litt unter Schmerzen und Krämpfen. Der juristische Kampf um ihr Recht auf Selbstbestimmung hat mehr als zwölf Jahr gedauert.


Entscheid des Landgerichts Deggendorf, 1. Grosse Strafkammer als Schwurgericht, vom 13. September 2013
(PDF)

In diesem Entscheid wies das Landgericht Deggendorf die Eröffnung eines Hauptver- fahrens gegen einen Arzt ab, da es befand, dieser sei nicht zur Vornahme lebens- erhaltender Massnahmen bei einem 84jährigen krebskranken Patienten verpflichtet gewesen, als er ihn anlässlich eines Hausbesuchs bewusstlos neben seiner verstorbenen 83jährigen Ehefrau auffand. Das Gericht stellte aufgrund der Gesamtumstände fest, dass der Ehemann einen freiverantwortlichen Bilanzsuizid begangen hatte, der auf einer rationalen Abwägung seiner Lebensumstände beruhte; in solchen Fällen sei kein Raum für eine strafrechtliche Sanktionierung von unterlassenen Rettungsbemühungen.


Entscheid des Verwaltungsgerichts Berlin vom 30. März 2012
(Link)

Mit diesem Entscheid gab das Verwaltungsgericht einem Arzt recht, der sich gegen die Untersagungsverfügung einer Ärztekammer wegen Überlassung tödlicher Substanzen zum Zwecke des Suizid zur Wehr gesetzt hatte. Im Leitsatz hielt das Gericht unter anderem fest, dass auch wenn sich die Untersagung durch die Ärztekammer Berlin auf die gesetzliche Generalklausel zur gewissenhaften Berufsausübung in Verbindung mit der Generalklausel zur Beachtung des ärztlichen Berufsethos in der als Satzung erlassenen Berufsordnung der Ärztekammer Berlin stützen würde, dies aber unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlich geschützten Freiheit der Berufsausübung und der Gewissensfreiheit des Arztes nicht als Rechtsgrundlage nicht reichen würde, um einem Arzt die Weitergabe todbringender Mittel an Sterbewillige generell zu untersagen. Und weiter: « Der ärztlichen Ethik lässt sich kein klares und eindeutiges Verbot der ärztlichen Beihilfe zu Suizid in Ausnahmefällen entnehmen, in denen der Arzt einer Person, zu der er in einer lang andauernden, engen Arzt-Patient-Beziehung oder einer längeren persönlichen Beziehung steht, auf deren Bitte hin wegen eines unerträglichen, unheilbaren und mit palliativmedizinischen Mittel nicht ausreichend zu lindernden Leidens ein todbringendes Medikament verschreibt.»


Verfügung zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens der
Staatsanwaltschaft München I, vom 30. Juli 2010
(PDF)

Mit dieser Verfügung beendete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlag gegen drei Kinder einer an Alzheimer-Demenz erkrankten Frau, welche bei ihrem Suizid zuhause anwesend waren und keine Versuche unternahmen, sie zu retten. Die Mutter hatte sich aufgrund der Diagnose entschieden, nicht bis zur vollen Ausprägung der Krankheit am Leben zu bleiben und deshalb ihren Suizid von langer Hand geplant. Die Ermittlungen zeigten, dass sich die Verstorbene intensiv mit dem Gedanken des Freitodes befasst hatte und es lagen keine Hinweise vor, dass sie nicht freiverantwortlich gehandelt oder sich der Tragweite ihres Tuns nicht bewusst gewesen wäre.


Entscheid des zweiten Strafsenats des Bundesgerichtshofs
vom 25. Juni 2010
(PDF)

In diesem Entscheid sprach der BGH einen Anwalt vom Vorwurf des versuchten Totschlags frei, der bei einer hochbetagten und schwerstkranken Patientin die Magensonde entfernen liess. Ein Pflegeheim hatte gegen Indikation und gegen den Willen der Patientin eine bereits beendete Infusionstherapie eigenmächtiger wieder aufgenommen, um das Sterben der Frau zu verhindern.
Der BGH hiielt fest, dass Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung (Behandlungsabbruch) gerechtfertigt ist, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen. Ein solcher Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden.

 


Österreich

Entscheid G 139/2019-71 vom 11. Dezember 2020 des Österreichische Verfassungsgerichtshof in Wien (Link / PDF)

Pressemitteilung des Verfassungsgerichtshofs (Link)

Communiqué von DIGNITAS (PDF)

Am 11. Dezember 2020 entschied der Österreichische Verfassungsgerichtshof über einen Individualantrag gegen das strafrechtliche Verbot von Suizidhilfe sowie Aktiver Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen).
§ 78 «Mitwirkung am Selbstmord» des österreichischen Strafgesetzbuches (öStGB), der in den austro-faschistischen 1930er Jahren entstand, lautete: «Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.»
Der zweite Tatbestand von § 78 öStGB «oder ihm dazu Hilfe leistet» befand der Gerichtshof für verfassungswidrig und hob ihn per 31. Dezember 2021 auf.
Der Antrag gegen die Tötung auf Verlangen, § 77 öStGB, wies das Gericht zurück.

 


Vereinigtes Königreich

Entscheid vom 30. Juli 2009 des House of Lords, auf Englisch (Link)

Informationen der Rechtsanwälte von Debbie Purdy, auf Englisch (Link)

Debbie Purdy, eine britische Staatsangehörige die an Multiple Sklerose leidet, brachte eine Beschwerde gegen den Direktor der Strafverfolgungsbehörde Keir Starmer (Director of Public Prosecution DPP) vor die Beschwerdekammer des House of Lords. Sie wollte wissen, ob ihr Ehemann von der Behörde verfolgt würde, falls er ihr helfen würde, ins Ausland zu einer Freitodbegleitung zu reisen. Der Entscheid der «Law Lords» zwang die Strafverfolgungsbehörde (Crown Prosecution Service CPS) darzulegen, unter welchen Umständen sie eine Strafverfolgung gegen Angehörige einleiten würde, die einem Nahestehenden zu einem Freitod im Ausland verhelfen.

 


Kanada

Entscheid vom 6. Februar 2015 des Supreme Court von Canada im Fall Carter v. Canada (Attorney General), auf Englisch (Link): In einem einstimmigen 9:0 Entscheid hat der kanadische Supreme Court die Abschnitte des Strafrechts für ungültig erklärt, welche ärztliche Beihilfe zum Suizid verbieten. Dieser Entscheid wird zwar erst in 12 Monaten in Kraft treten; es bedeutet aber, dass es nicht länger gegen das Gesetz sein wird, dass ein Arzt unter gewissen Bedingungen einer schwer kranken Person hilft ihr Leben zu beenden.



Vereinigte Staaten von Amerika

Entscheid vom 31. Dezember 2009 des Supreme Court des US-Bundesstaats Montana, auf Englisch (PDF)

Der Supreme Court of Montana entschied, gemäss der Verfassung von Montana, Artikel II, Paragraph 4 und 10, habe der terminal kranke Bob Baxter ein Recht auf einen würdigen Tod und sein Arzt gleichzeitig ein Recht auf Schutz vor einer Strafverfolgung. Obwohl das Recht auf ein durch einen Arzt begleitetes Sterben von der Verfassung Montanas nicht garantiert werde, verstosse eine derartige Hilfe weder aufgrund von Präzedenzfällen noch von Gesetzen gegen das öffentliche Interesse und sei somit nicht illegal. Der Entscheid fiel mit fünf zu zwei Stimmen.
Durch diesen Entscheid wurde Montana zumindest theoretisch der dritte US-Bundesstaat (nach Oregon und Washington), der die Beihilfe zum Freitod legalisierte. Gouverneur und Parlament von Montana haben bis jetzt jedoch noch kein Gesetz zustande gebracht, welches die Frage allgemein regelt.


Entscheid vom 6. Februar 2012 des Supreme Court des US-Bundesstaats Georgia, auf Englisch (PDF)

Das Gesetz von Georgia, welches öffentliches Bewerben oder Anbieten von Freitodhilfe oder das Angebot des persönlichen Zur-Verfügung-Stellen hierfür mit bis zu 5 Jahren Gefängnis bedroht, verletzt die freie Meinungsäusserung gemäss der Verfassung von Georgia sowie der Verfassung der USA.
Im einstimmigen Entscheid sagte Richter Hugh Thompson: „der Staat hat keine ausreichende Erklärung oder Beweise vorgelegt, welche belegen würden, weshalb ein öffentliches Anbieten von Assistenz in einer sonst legalen Aktivität ausreichend problematisch sein soll, um einen Eingriff in die Meinungsfreiheit zu rechtfertigen. Wir sind der Meinung, dass ohne ein besonderes Interesse und ohne ein präziseres Gesetz, der Staat in Übereinstimmung mit den Verfassungen von Georgia und den USA kein Recht hat, öffentliches Bewerben oder Anbieten von Freitodhilfe oder das Angebot des persönlichen Zur-Verfügung-Stellen hierfür unter Strafe zu stellen.“


Entscheid vom 3. April 2014 des Second Judicial District Court in Albuquerque, New Mexico , auf Englisch (PDF)

Die Rechtsordnung des US-Staates New Mexico enthält das Recht einer terminal kranken, urteilsfähigen Person, die Hilfe eines Arztes in Anspruch zu nehmen, um verschreibungspflichtige Medikamente für einen ruhigen Tod zu erhalten. Richterin Nan G. Nash am Second Judicial District Court in Albuquerque urteilte am 3. April 2014, zwei Onkologen am Universitätsspital von New Mexico könnten nicht aufgrund des „Assisted Suicide Statute“ belangt werden; einem Gesetz, welches die vorsätzliche Beihilfe zum Suizid unter Strafe stellt.
Damit wurde New Mexico zu einem weiteren US-Bundesstaat, der die Beihilfe zum Freitod durch Gerichtsentscheid in einem Einzelfall theoretisch legalisiert hat.

 


Lateinamerika


Ecuador

Entscheid vom 5 February 2024 des Verfassungsgerichts von Ecuardor (Link): In diesem von Paola Roldan, die an Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) erkrankt ist, vorgebrachten Fall, entschieden sieben der neun Richter, dass sie ein Recht hat auf Zugang zu Sterbehilfe in der Form von assistiertem Suizid. Zudem entscheid das Verfassungsgericht, dass der Gesetzgeber zwölf Monate Zeit erhält, um ein Gesetz für die Implementierung von Suizidassistenz zu erlassen.
Mit diesem Gerichtsurteil wird Ecuador nach Kolumbien zum zweiten Land in Lateinamerika, das Suizidassistenz legalisiert.

 


Südafrika

Entscheid Nr. 27401/15 vom 4. Mai 2015 des High Court von Südafrika (North Gauteng High Court) in der Sache Robert James Stransham-Ford v. the Minister of Justice und Andere (PDF)

In einem Court Order vom 30. April 2015 (PDF) und anschliessenden Entscheid vom 4. Mai 2015 stellte Richter Fabricius fest, dass es Robert James Stransham-Ford, der aufgrund eines Prostatakrebses am Sterben war und der das Gericht angerufen hatte, erlaubt sei, die Hilfe eines Arztes für Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu dürfen.

Mit Entscheid vom 6. Dezember 2016 hob der Supreme Court of Appeal of South Africa den High Court Entscheid wieder auf. Es besteht nun noch die Möglichkeit, das Verfahren and en Constitutional Court weiter zu ziehen.

 
 

Aktuelles

 

 

Sehens-Wert


«Vom Tabu zum
Menschenrecht»

Artikel von L.A. Minelli in
«Aufklärung und Kritik»

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«Unser Ziel? Irgendwann zu verschwinden»

Interview mit L.A. Minelli

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Zeitschrift
Mensch + Recht

Die aktuelle Ausgabe
Nr. 170, Dezember 2023

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«Thomas Morus und die Sterbehilfe: Bekenntnis oder Satire?»

Artikel von L.A.Minelli in
«Aufklärung und Kritik»

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«Die letzte Reise»

Ein Erlebnisbericht
von Lea R. Söhner

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Dokumentarfilme und
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